Jüdisches Leben in Biesdorf

Erinnerungen an den beliebten jüdischen Arzt Dr. Arno Philippstahl

Jüdisches Leben in Biesdorf

Links: Porträt (um 1930), rechts: Dr. Philippsthal mit seiner Tochter Gerda 1932 bei der Gartenarbeit © Bezirksmuseum
Links: Porträt (um 1930), rechts: Dr. Philippsthal mit seiner Tochter Gerda 1932 bei der Gartenarbeit © Bezirksmuseum

Der 9. November gilt hierzulande als Schicksalstag. Er markiert das Scheitern der Märzrevolution 1848, die Geburtsstunde der ersten Republik 1918, den vereitelten Hitlerputsch 1923, den Mauerfall 1989 und auch eine der dunkelsten Stunden deutscher Geschichte: die Reichspogromnacht 1938. Nachdem Juden seit 1933 bereits zunehmend ausgegrenzt, wirtschaftlich ruiniert und gedemütigt wurden, eskalierte die antisemitische Diskriminierung in dieser Nacht zu blanker Gewalt: 

Synagogen brannten, Geschäfte wurden geplündert, Wohnungen verwüstet, Friedhöfe geschändet und Menschen ermordet. Um die Erinnerung an die menschenverachtenden Übergriffe wachzuhalten, finden am 9. November Jahr für Jahr Veranstaltungen und Stolperstein-Putzaktionen statt. Doch das Gedenken beschränkt sich nicht nur auf diesen einen Tag. Allein in Marzahn-Hellersdorf gibt es unzählige Erinnerungsorte. Vergangenes Jahr etwa benannte die STADT UND LAND im neuen Quartier Alt-Biesdorf eine Straße und einen Platz nach Elsa Ledetsch und Gisela Reissenberger. Beide Frauen versteckten während der NS-Zeit jüdische Mitbürger in ihren Biesdorfer Wohnungen. 

 

Nur einen Steinwurf vom Gut entfernt – im großzügigen Innenhof des Seniorenwohnheims am Grabensprung 29 – stößt man auf einen anderen Namen: „Dr. Arno Philippsthal. Ein Arzt des Volkes von den Faschisten am 3. April 1933 ermordet“ steht auf der 1988 eingeweihten Kalksteinstele geschrieben. Der 1887 geborene Philippsthal gilt als eines der ersten NS-Opfer in Berlin. Sein Schicksal steht stellvertretend für das zahlreicher jüdischer Ärzte, für die der Machtantritt der Nationalsozialisten schnell existenzbedrohend und zur lebensgefährlichen Angelegenheit wurde. 

 

Nach Biesdorf war der Mediziner 1919 mit seiner Frau Eva gekommen. Das Paar bezog in der Marzahner Straße 10 (heute: Oberfeldstraße) Wohn- und Praxisräume. Im selben Jahr wurde Tochter Ursula geboren. Sie schrieb 1994 in einem Brief an das Bezirksmuseum über ihren Vater: „Tag und Nacht stand er zur Verfügung seiner Patienten. Manchmal machte er bis 3 Mal in der Nacht Besuche bei Kranken. Er hatte damals ein Fahrrad, mit dem er bis Kaulsdorf fuhr. Da seine Praxis später sehr gut lief, schaffte er sich ein Auto an und fast immer nahm er Leute mit, um ihnen den Weg zu ersparen. Er war praktischer Arzt, der einfach alles machte, sogar Zähne hat er gezogen.“ Nebenbei bildete Dr. Arno Philippsthal Angehörige der Biesdorfer Feuerwehr für den Sanitätsdienst aus und engagierte sich in Gemeindebelangen, wie die Leiterin des Bezirksmuseums, Dorothee Ifland, zu berichten weiß. Sie hat jahrelang zur Biografie des jüdischen Arztes geforscht. 

 

Die Ehe zwischen Arno und Eva Philippsthal zerbrach 1924. Drei Jahre später heiratete der im Kiez beliebte und erfolgreiche Doktor Frieda Schrock. 1928 kam Tochter Gerda, 1930 Sohn Hans-Ferdinand zur Welt. Bereits Ende der 1920er-Jahre wurde die Praxis ausgebaut. Die Familie zog in die Königsstraße (heute: Otto-Nagel-Straße) um. Anfang der 1930er Jahre plante Philippsthal sogar, eine eigene Klinik zu bauen. Sie sollte an der Auguststraße 7 (heute: Kulmseestraße 16) errichtet werden. Als Baubeginn war der 1. April 1933 avisiert. 

 

Doch zum Spatenstich kam es nicht mehr. Am 20. und 21. März 1933 sollen in einer Biesdorfer Lokalzeitung zwei denunziatorische Artikel gegen Philippsthal erschienen sein. Am frühen Nachmittag des 21. März 1933 tauchten Angehörige der örtlichen SA in seiner Praxis auf und nahmen ihn – ohne Haftbefehl und ohne Angabe von Gründen – fest. 

Philippsthal wurde in das SA-Gefängnis Papestraße gebracht und dort schwer misshandelt. Am Morgen des 3. April erlag er im Staatskrankenhaus der Polizei seinen Verletzungen. 

„Das plötzliche Ableben des Mediziners sprach sich schnell herum und löste offenbar Unruhe im ganzen Bezirk aus“, so Ifland. Es setzte daraufhin eine mehrtägige Pressekampagne ein, die der Verschleierung des Mordes dienen sollte. Der Tod wurde offiziell als Selbstmord deklariert: „Freitod durch Veronal“, hieß es in einem Beitrag. Unter großer Anteilnahme von Verwandten, Freunden und Bekannten wurde Arno Philippsthal schließlich auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee beigesetzt.

 

In Biesdorf erinnern neben der Kalksteinstele und dem nach ihm benannten Seniorenheim am Grabensprung auch eine Straße im Kiez, und eine Gedenktafel am ehemaligen Wohnhaus in der Oberfeldstraße an den beliebten Bürger des Ortsteils.

 

Dieser Artikel ist im Rahmen einer Sonderveröffentlichung der STADT UND LAND Wohnbauten-Gesellschaft mbH in unserer November-Ausgabe erschienen.