Bezirk will Eltern noch früher unterstützen

Zum Wohl von Kindern und Jugendlichen

Bezirk will Eltern noch früher unterstützen

Mütter und Väter stehen häufig unter enormem Druck. Sie sollen berufliche Herausforderungen meistern, den Haushalt managen und für ihre Kinder gute Mütter und Väter sein. Wenn Belastungen wie Geldsorgen, Trennung oder Krankheit die Lebenssituation erschweren und unterstützende Verwandte nicht in der Nähe wohnen, kann der Alltag ganz schnell über den Kopf wachsen.

In Marzahn-Hellersdorf, dem Berliner Bezirk mit den meisten Alleinerziehenden, geht das nicht wenigen Eltern so. Am Ende sind die Kinder die Leidtragenden. Das zeigen die besorgniserregenden Ergebnisse der Einschulungsuntersuchungen ebenso wie ein Blick auf die steigende Zahl der Kinderschutzfälle.

 

Problemen vorbeugen

„Wir sehen bei unseren Familien zunehmend Unterstützungsbedarf“, sagt Marzahn-Hellersdorfs Jugendstadtrat Gordon Lemm. Weil gerade im frühen Stadium von Schieflagen Fachleute Eltern noch wirksam durch Begleitung und Beratung unter die Arme greifen können, will er in Sachen Kinderschutz und Kinderförderung künftig verstärkt auf Prävention setzen. Das heißt, rechtzeitig – bevor also Krisen überhaupt entstehen und es im schlimmsten Fall zu Vernachlässigung und Misshandlung kommt – soll Müttern und Vätern geholfen werden, die Anforderungen an das Elternsein selbst zu meistern.

„Was wir bislang gemacht haben, war vor allem Symptombehandlung“, bemängelt der SPD-Politiker. Exemplarisch dafür: die explodierenden Kosten bei den Hilfen zur Erziehung (HzE). Diese Maßnahmen reichen von Beratungsangeboten und Familientherapien bis zur Unterbringung von Kindern in Einrichtungen wie Heimen oder Wohngruppen. Sie sind zwar ein wichtiges Angebot für überforderte Eltern, in Anspruch genommen werden sie häufig aber erst, wenn die Probleme zu Hause schon sehr groß sind – etwa wenn Kinder aus ihren Familien herausgenommen werden müssen. Das ist dann nicht nur besonders dramatisch, sondern auch besonders teuer. Mit 49 Prozent bilden die sogenannten stationären Hilfen im Bezirk den größten HzE-Posten.

Knapp 81 Millionen Euro hat Marzahn-Hellersdorf im vergangenen Jahr für Hilfen zur Erziehung ausgegeben und damit so viel wie kein anderer Bezirk. Obwohl die Kosten eigentlich das Land Berlin trägt, gab es von der Finanzverwaltung lediglich 65 Millionen Euro zurück.

 

Eltern im Fokus

Das Jugendamt sucht nun nach Instrumenten, die HzE-Ausgaben zu reduzieren. Nicht allein um den Haushalt zu entlasten, sondern weil hinter den Zahlen Schicksale stecken. Es geht um Kinder, die unter schwierigen Startbedingungen in problematischen Verhältnissen aufwachsen.

Die Eltern rücken dabei immer mehr in den Fokus. Schließlich sind sie in erster Linie für die gute Entwicklung ihrer Kinder verantwortlich. Allerdings beklagen Kindergärtner und Lehrer den Trend, dass Mütter und Väter ihre Fürsorgepflicht vermehrt an Kita und Schule delegieren. Doch diese Institutionen können gar nicht abfangen, was in den Familien alles schief läuft.

 

Versäumte Prävention ist teuer

Um Eltern noch früher zur Seite zu stehen und in ihrer Elternrolle zu stärken, braucht das Jugendamt natürlich Ressourcen. Andernfalls bleibt das Vorhaben des Stadtrats nicht mehr als eine schöne Idee. Aktuell stehen dem Bezirk lediglich 475.000 Euro für vorbeugende Familienhilfen zur Verfügung. Gordon Lemm fordert über fünf Millionen Euro. Noch fehlt dafür die Unterstützung vom Senat. Dabei wäre das Geld gut angelegt: „Studien zeigen, dass ein Euro, der in den ersten drei Lebensjahren eines Kindes investiert wird, den gleichen Hilfe-Effekt erzielt wie 14 Euro, die zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr aufgewendet werden", rechnet der Familienstadtrat vor. Mit zunehmendem Alter potenzieren sich die Kosten weiter. Werde erst in der Schulzeit interveniert, sind es bereits 46 Euro. 

Doch es geht nicht nur um Geld. Mehr Prävention erfordert auch ausreichend und speziell geschultes Personal. Seit seinem Amtsantritt kämpft Lemm dafür, freie Stellen in seinem Amt schneller zu besetzen. Bisher mit mäßigem Erfolg. Anders sieht es da schon bei den Qualifizierungsmaßnahmen aus: Bis 2019 werden alle Mitarbeiter des Regionalen Sozialpädagogischen Dienstes (RSD) – also jene Fachkräfte, die täglich ganz nah dran sind an den Familien – spezielle Fortbildungen zu sogenannten elternaktivierenden Arbeitsweisen erhalten. Auch freie Träger in Marzahn-Hellersdorf nehmen an den Kursen teil.

 

Bewusstsein von Eltern schärfen

Welche elterlichen Kompetenzen es konkret zu stärken gilt, dafür hat kürzlich die Senatsbildungsverwaltung mit ihrer Plakataktion „Heute schon mit Ihrem Kind gesprochen?“ ein Beispiel geliefert. Die Kampagne soll Erwachsenen vor Augen halten, wie sich ein intensives Smartphone-Verhalten negativ auf die Kinder auswirken kann – nämlich dann, wenn diese zu wenig Aufmerksamkeit bekommen. Dass in vielen Familien unzureichend kommuniziert wird, belegen die bei den Einschulungsuntersuchungen festgestellten sprachlichen Defizite. Zudem gibt es immer mehr Mädchen und Jungen, die in Kita und Schule auffallen, weil sie sich nicht mehr konzentrieren können, aggressiv oder übermüdet sind und die aufgrund schwieriger familiärer Verhältnisse keine unbeschwerte Kindheit genießen dürfen. Diese besorgniserregende Entwicklung aufzuhalten, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nicht aus dem Blick geraten darf.

 

Lotsen im Kiez

„Die Eltern zu erreichen, sie mit ins Boot zu holen – das ist auch für uns die große Herausforderung“, gesteht Sarah Seeliger. Sie hat 2015 gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Librileo gegründet. Das gemeinnützige Unternehmen betreibt unter anderem am Boulevard Kastanienallee den im Sommer eröffneten „Löwenladen“ mit vielen kostenlosen Angeboten zum Malen, Basteln, Spielen, Lesen und Kochen. Die Kinder rennen der Einrichtung inzwischen die Türen ein. Doch nicht immer werden sie von ihren Eltern begleitet. Gerade den Müttern und Vätern aber will sich das Team des Löwenladens widmen und ihnen bei Fragen und Problemen als Lotsen im Kiez zur Seite zu stehen. „Es mangelt im Bezirk nicht an Angeboten. Viele Eltern finden den Weg dorthin einfach schlichtweg nicht“, erklärte Sarah Seeliger Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) bei deren Besuch im Löwenladen Anfang September.

 

Ein Herz für Familien

Eine langjährige Anlaufstelle für Familien im Hellersdorf ist das 1993 eröffnete SOS Familienzentrum (Alten Hellersdorfer Straße 77). Auch hier erhalten Eltern einen niedrigschwelligen Zugang zu Beratungs- und Unterstützungsangeboten. „Wir sind ein offenes Haus. Zu uns kann jeder kommen – ob mit oder ohne Erziehungsproblemen“, sagt Elskea Ruwisch, die gemeinsam mit anderen Kollegen den Familientreffpunkt betreut. Das Herzstück der Begegnungsstätte bilden ein Café und der große Garten. Viele Besucher schätzen die ungezwungene Atmosphäre dort. Bei der Bewältigung von Problemen hilft die kostenlose Erziehungs- und Familienberatungsstelle – eine zweite wichtige Säule im SOS Familienzentrum. Dort kümmert sich ein Team aus qualifizierten Psychologen und Pädagogen um die Anliegen und Sorgen der Familien. Das Spektrum reicht von der Schreibaby-Beratung bis zur Familientherapie und Kursen für Eltern in Trennung und Scheidung.

„Einrichtungen wie der Löwenladen oder das SOS-Familienzentrum helfen Müttern und Vätern bei der Bewältigung ihrer elterlichen Aufgaben“, sagt Gordon Lemm. Diese Angebote müssten allerdings noch bekannter und zahlreicher werden. Nur so können auch alle Familien unterstützt werden, die Hilfe benötigen.