Warum die Anliegen queerer Menschen keine Luxusprobleme sind

Marzahn-Hellersdorfs neue Beauftragte Vanessa Krah im Interview

Warum die Anliegen queerer Menschen keine Luxusprobleme sind

 Vanessa Krah ist die erste Queerbeauftragte im Bezirk, T. (030) 90293-2016, E-Mail: vanessa.krah@ba-mh.berlin.de
Vanessa Krah ist die erste Queerbeauftragte im Bezirk, T. (030) 90293-2016, E-Mail: vanessa.krah@ba-mh.berlin.de

Ihre Stelle wurde neu geschaffen und die Aufgaben haben es in sich. Vanessa Krah ist seit Juli bezirkliche Beauftragte für Queer, Städtepartnerschaften und Freiwilliges Engagement. Zum Auftakt haben wir mit ihr über die Akzeptanz und Sichtbarkeit von Menschen im Bezirk gesprochen, die sich nicht mit den traditionellen gesellschaftlichen Normen rund um Geschlecht und Sexualität identifizieren. Außerdem wollten wir von der 27-jährigen Politikwissenschaftlerin wissen, was sie sich so alles vorgenommen hat.

 Wir leben im Jahr 2022. Es gibt die Ehe für alle. In sozialen Medien, Podcasts, Filmen und Serien ist sexuelle und geschlechtliche Vielfalt sichtbarer denn je. Hier vor dem Rathaus in Marzahn-Hellersdorf wird zweimal im Jahr die Regenbogenflagge gehisst und eine eigene Pride-Parade hat der Bezirk auch. Warum braucht es jetzt noch eine Queerbeauftragte?

Wie notwendig queere Politik ist, hat erst kürzlich der tödliche transfeindliche Angriff auf einen 25-Jährigen am Rande des Christopher Street Days in Münster gezeigt. Klar, Münster ist weit weg, aber leider ist Malte C. kein Einzelfall. Auch bei uns im Bezirk sind queere Menschen im Alltag oft von abwertenden Sprüchen, Ausgrenzung, Ungleichbehandlung und Gewalt betroffen. Es wird Zeit, dass diese Leute eine Ansprechpartnerin und Fürsprecherin bekommen. Meine Aufgabe als Queerbeauftragte ist es, mich für mehr Akzeptanz und Sichtbarkeit der LSBTIQ*-Gemeinschaft einzusetzen – sowohl ressortübergreifend innerhalb der Bezirksverwaltung als auch außerhalb. Und da gibt es jede Menge zu tun.

 

 Sind Bürger*innen bereits mit konkreten Anliegen oder Problemen an Sie herangetreten?

Ja. Allerdings bin ich hier erst seit Ende August offiziell als Queerbeauftragte unterwegs. Entsprechend überschaubar sind derzeit noch die Anfragen. Aber auch Kolleg*innen aus dem Bezirksamt haben mich schon angesprochen. Da ging es vor allem um Unsicherheiten bei der gendersensiblen Anrede. 

 

 In dem Zusammenhang fällt mir ein, dass ich meine Interview-Anfrage mit den Worten „Liebe Frau Krah …“ begonnen hatte, wohingegen Sie in Ihrer Antwort bewusst auf „Frau“ verzichteten und mich stattdessen mit meinem Vor- und Nachnamen angesprochen haben. 

Stimmt (schmunzelt). Ich bemühe mich um eine relativ genderneutrale Anrede, es sei denn, ich weiß genau, mit welchem Geschlecht sich die andere Person identifiziert.

 

 In unserer Zeitung überlassen wir es den Autor*innen, ob sie weiterhin das generische Maskulinum (Studenten) verwenden, aufs Gerundium ausweichen (Studierende), Sternchen setzen (Student*innen) oder alle Möglichkeiten ausschöpfen, die die gendersensible Sprache bietet. Das hat uns haufenweise Post von verärgerten Leser*innen eingebracht, die uns „Sprachverstümmelung“ vorwerfen. 

Übers Gendern wird wirklich sehr hitzig debattiert und ich kann verstehen, dass es auf den ersten Blick umständlich wirkt und ungewohnt ist. Aber mir gefällt der inklusive Gedanke dabei. Wer gendert, akzeptiert, dass es mehr als nur Mann und Frau gibt, und setzt damit ein starkes Zeichen für Offenheit und Toleranz.

 

 Wissen Sie, wie viele queere Menschen überhaupt in Marzahn-Hellersdorf leben?

Schwer zu sagen. Schätzungen gehen davon aus, dass in Großstädten ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung zur queeren Community gehören. Demnach wären es im Bezirk 27.000 Bewohner*innen.

 

 Die queere Gemeinschaft ist total bunt und umfasst Personen mit ganz unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und Identitäten. Lesbische cis-Frauen, Trans-Personen, intersexuelle Menschen oder zum Beispiel auch Bisexuelle. Wie wollen Sie für all diese Gruppen eintreten?

Das ist ein ganz relevanter Punkt. Vielen ist gar nicht bewusst, wie heterogen die LSBTIQ*-Community tatsächlich ist. Queere Geflüchtete etwa müssen den Behörden im Asylverfahren glaubhaft machen, dass ihnen im Herkunftsland Verfolgung droht. Es wurden schon Anträge mit der Begründung abgelehnt, die Betroffenen hätten bisher ein Doppelleben geführt, also könnten sie sich bei ihrer Rückkehr in die Heimat auch weiterhin unauffällig verhalten, damit ihnen nichts zustößt. Ich will mit diesem Beispiel zum Ausdruck bringen, dass viele Gruppen und Strömungen innerhalb der queeren Gemeinschaft ganz anders von Diskriminierung betroffen sind als der klassische weiße, schwule cis-Mann. Die Lebensrealitäten und Forderungen unterscheiden sich teilweise enorm. Ich kann gar nicht alle Bedarfe im Detail kennen. Umso wichtiger ist es, nah dran zu sein an den queeren Menschen und darüber hinaus mit vielen Expert*innen zusammenzuarbeiten. Deswegen steht der Aufbau eines gut funktionierenden Queer-Gremiums auch ganz oben auf meiner To-do-Liste.

 

■ Anfang des Jahres wurde doch schon ein runder Tisch für LSBTIQ*-Angelegenheiten im Bezirk gegründet.

Dort waren auch schon viele queere Akteur*innen vertreten. Leider sind die Treffen in den vergangenen Monaten etwas eingeschlafen. Gemeinsam mit den Initiator*innen diskutieren wir gerade über eine Neuausrichtung. Ich bin zuversichtlich, dass wir uns in naher Zukunft neu konstituieren und die vielen verschiedenen Themen dann auf ein paar mehr Köpfe verteilen können. Mir schwebt ein ähnliches Gremium vor wie der bezirkliche Frauenbeirat – so eine Art Bindeglied zwischen Bezirksverwaltung und Zivilgesellschaft – mit einem offenen und lebendigen Austausch.

 

 Was braucht es in Marzahn-Hellersdorf noch, um queerfreundlicher zu werden?

Vereinzelt sind schon Angebote vorhanden: Das Queer Café jeden Donnerstag im Hella-Klub (Tangermünder Straße 2a), der queere Treff in der Machbar 37 (Marzahner Promenade 37) an jedem ersten, dritten und fünften Freitag im Monat oder das Beratungs- und Gesprächsangebot QUIDS* für queere Kinder und Jugendliche (Marzahner Promenade 33) vom Träger Dissens, um nur ein paar zu nennen. Aber es fehlt dringend eine zentrale Anlauf- und Andockstelle mit professionellen Hilfs- und Beratungsangeboten. Die soll in den kommenden Jahren entstehen.

 

 Dieses Regenbogenzentrum ist ein Herzensprojekt von Rot-Rot-Grün im Bezirk. Wie weit sind die Planungen? 

Für die Erstellung des Konzepts steht im aktuellen Doppelhaushalt ein Budget zur Verfügung. Ich möchte ein externes Büro mit der Machbarkeitsstudie beauftragen. Darin soll beleuchtet werden, welche Bedarfe es im Bezirk gibt, welche inhaltlichen Schwerpunkte denkbar wären, wo sich potenzielle Standorte befinden und was das Ganze kosten würde.

 

 Das Grüne Haus in Hellersdorf war als Räumlichkeit zeitweilig im Gespräch, ist aber inzwischen vom Tisch. Wie sähe denn der ideale Standort aus?

Weil wir es innerhalb der Community häufig mit vulnerablen Personengruppen zu tun haben, ist Sicherheit das A und O. Dunkle Wege und eine schlechte ÖPNV-Anbindung sind definitiv Ausschlusskriterien. Wenn ich es mir aussuchen dürfte, wäre das eine exponierte Lage mit viel Publikumsverkehr wie beispielsweise an der Marzahner Promenade. 

 

 Wo wir beim Thema Sichtbarkeit wären.

Exakt. Wir brauchen mehr Sichtbarkeit der LSBTIQ*-Community in der Gesellschaft. Ein absolutes Leuchtturmprojekt ist in dieser Hinsicht die schon angesprochene Marzahn Pride. Wir sollten aber dahin kommen, queeren Themen nachhaltig mehr Raum in der Öffentlichkeit zu geben. Wenn im Juni und Juli überall Regenbogenflaggen wehen, ist das toll, aber nicht genug. Schließlich leben die Menschen nicht nur im Pride-Monat hier im Bezirk, sondern das ganze Jahr über. Mit Unterstützung der Akteur*innen in unserem künftigen Queer-Beirat gelingt es hoffentlich, regelmäßig interessante Veranstaltungen, Workshops, Lesungen und andere Formate zu initiieren. 


Was bedeutet eigentlich …?

 

Queer wird kwier ausgesprochen und als Sammelbegriff für Menschen verwendet, die in ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität von der gesellschaftlichen Mehrheit abweichen. Als „queer“ gelten u. a. homo-, bi- und intersexuelle und Trans-Personen.

 

LSBTIQ* ist die Abkürzung für Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans-, intergeschlechtliche und queere Menschen. Das * dient als Platzhalter für weitere Geschlechtsidentitäten bzw. sexuelle Orientierungen.

 

Cis bedeutet, dass sich eine Person mit ihrem bei der Geburt eingetragenen Geschlecht identifiziert. 

 

Trans heißt: Geschlechtsidentität und zugeschriebenes Geschlecht stimmen nicht überein.