Familienrat wird ausgeweitet
Die Stadt schaut auf Modellprojekt in Marzahn-Hellersdorf
Wenn Eltern an ihre Grenzen stoßen und die Probleme mit ihren Kindern nicht mehr allein bewältigt bekommen, erhalten sie vom Jugendamt „Hilfen zur Erziehung“. In keinem Berliner Bezirk ist der Unterstützungsbedarf so groß wie in Marzahn-Hellersdorf. Um den Worst Case, die Inobhutnahme von Kindern, zu vermeiden, setzt der Bezirk seit anderthalb Jahren vermehrt auf ein Instrument, das Familien darin bestärkt, ihre Schwierigkeiten mithilfe ihres sozialen Umfeldes selbst in den Griff zu bekommen. Nach der erfolgreichen Testphase des sogenannten „Familienrats“ soll das Modellvorhaben flächendeckend im Bezirk eingeführt werden. Vom Senat gibt es dafür eine Million Euro aus dem Flexibudget.
Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz haben Jugendstaatssekretär Falko Liecke (CDU) und Gordon Lemm (SPD), Bezirksstadtrat für Jugend, Familie und Gesundheit in Marzahn-Hellersdorf, am Donnerstag das Projekt vorgestellt.
Der Familienrat sei an sich keine neue Erfindung, stellte Falko Liecke klar. Neu sei aber, dass der Rat grundsätzlich immer herangezogen werde, bevor das Jugendamt Kinder aus einer Familie nehme.
Familien werden aktiv eingebunden
Gordon Lemm sprach von einem „fundamentalen Wandel in der Jugendhilfe“. Üblicherweise erzähle eine Fachkraft den belasteten Familien, was nicht gut funktioniere, und helfe ihnen dann quasi eine Maßnahme über. Dabei sei der Expert:innenblick auf die vermeintlichen Problemlagen von Familien nicht immer das, was wirklich zu einer dauerhaften strukturellen Verbesserung der Situation führe. Mit dem Familienrat werde eine andere Herangehensweise verfolgt – „weil wir die Eltern in der Verantwortung lassen “, so Lemm. Zwar begleiten geschulte Sozialarbeiter:innen von freien Trägern den Rat. Sie geben aber keine Lösungen vor. Die Familie entscheidet selbst, welche Menschen zu den Zusammenkünften eingeladen werden. Das können Verwandte, Bekannte, Freund:innen, Nachbar:innen, Kita- und Horterzieher:innen, Arbeitskolleg:innen oder auch völlig andere Vertrauenspersonen aus dem nahen Umfeld sein. Gemeinsam diskutieren die Teilnehmenden bestehende Schwierigkeiten und Bewältigungsstrategien. Anschließend wird ein Plan geschmiedet.
Stationäre Unterbringungen: Schlecht für die Kinder und extrem teuer
Bislang sind in Marzahn-Hellersdorf jährlich etwa 130 Familienräte eingerichtet worden. Dabei konnte das Amt einen rückläufigen Trend der stationären Unterbringungen verzeichnen. Für Kinder und Jugendliche stelle der Familienrat „eine wichtige Chance dar, in ihrer eigenen Familie zu bleiben“, sagte Falko Liecke, der sich von dem Instrument zur Selbsthilfe auch fiskalische Effekte verspricht. Es sei „viel Geld im Spiel“, so der Staatssekretär. Eine stationäre Hilfe, also eine Unterbringung in einer Wohngruppe, Pflegefamilie oder in einem Heim, koste im krassen Fall jährlich schon mal ein Einfamilienhaus, verriet Liecke. Jährlich gingen Hilfen zur Erziehung in Höhe von über 750 Millionen Euro über die Bezirke an die Familien. Allein in Marzahn-Hellersdorf sind es 100 Millionen.
3.000 Familien im Bezirk erhalten Hilfen zur Erziehung
„Wir haben besondere Rahmenbedingungen“, machte Gordon Lemm deutlich. In Marzahn-Hellersdorf leben die meisten alleinerziehenden Eltern. Jedes vierte Kind ist armutsbetroffen. „Wir sind in der Regel auch der Bezirk mit den schlechtesten Einschulungsergebnissen.“ Insgesamt erhalten 3.000 Familien Hilfen zur Erziehung – so viele wie in keinem anderen Berliner Bezirk. Dabei sei sowohl der Anteil an stationären Hilfen als auch die Dauer der Unterbringungen sehr hoch.
Familienräte verhinderten Inobhutnahmen
Insofern ist Marzahn-Hellersdorf als Modellbezirk prädestiniert. Die Testphase lief hier von September 2022 bis Juni 2023. In dieser Zeit wurden 49 Familienräte einberufen. Laut Bezirksamt konnten dabei 23 stationäre Unterbringungen vermieden oder vorzeitig beendet und somit 108.000 Euro pro Monat eingespart werden.
Jetzt wird das Projekt ausgeweitet. In Marzahn und in Hellersdorf richten drei Träger – JAO, pad und der Verein Kinderhaus Berlin – Mark Brandenburg – spezielle Büros ein, in denen die Familienräte in vertrauensvoller Umgebung zusammenkommen. „Dort kann man sich als Familie aber auch allein hinwenden“, merkte Lemm an. Eine Zuweisung vom Jugendamt werde nicht benötigt.
Auch der Bund ist interessiert
Ob sich der Familienrat in Marzahn-Hellersdorf bewährt, verfolgen Expert:innen nicht nur auf Landesebene aufmerksam. „Wir bekommen voraussichtlich eine externe Evaluation vom Bund“, berichtete Bezirksstadtrat Lemm auf der Pressekonferenz. Die Ergebnisse werden mit Spannung erwartet. Sollte sich herausstellen, dass das Verfahren die Situation von Kindern tatsächlich nachhaltig verbessert, Fachkräfte entlastet und einen fiskalischen Mehrwert bringt, soll das Projekt in der Hauptstadt weiter ausgerollt werden. „Wir prüfen, Familienräte grundsätzlich für alle Bezirke vorzugeben“, kündigte Falko Liecke an.