Was es heißt, alleinerziehend zu sein

Im Gespräch: Adriana Kolliski und Janet Lejcek

Was es heißt, alleinerziehend zu sein

Nirgendwo in Berlin leben so viele Alleinerziehende wie in Marzahn-Hellersdorf. 13.700 Familien im Bezirk sind Ein-Eltern-Familien. Das heißt, in etwa 40 Prozent der Haushalte wachsen Kinder und Jugendliche bei nur einem Elternteil auf – meist ist das die Mutter. Wer allein für den Nachwuchs sorgen muss, leistet unfassbar viel: für die Kinder da sein, den Haushalt schmeißen, im Job funktionieren, Stress mit dem Ex-Partner aushalten, Behördengänge, Arztbesuche, Kitaplatzsuche ... Ganz oft ist auch das Geld knapp. Alleinerziehende und ihre Kinder sind sehr viel häufiger von Armut bedroht als der Rest der Bevölkerung.

 

Wie es ist, alleinerziehend zu sein, und was Ein-Eltern-Familien das Leben erleichtern würde, darüber haben wir mit der neuen Koordinatorin des bezirklichen „Netzwerks Alleinerziehende“, Janet Lejcek, und mit der Zweifach-Mama Adriana Kolliski gesprochen. Die 46-Jährige ist vor einem Jahr von Chemnitz nach Hellersdorf gezogen. Sie schlägt sich seit über zehn Jahren allein mit ihren Töchtern (15 und 12) durch. Mitleid möchte sie dafür nicht. Im Gegenteil: Adriana Kolliski ist glücklich und sehr stolz auf ihre kleine Familie.

 

Mit Kind allein zu sein, das planen die allerwenigsten Mütter und Väter. Wie war es bei Ihnen?

Adriana Kolliski: Ich war mit dem Vater meiner Töchter verheiratet. Beide Mädchen sind Wunschkinder gewesen. Als er mich für eine andere Frau verlassen hat, bin ich in ein tiefes Loch gefallen. Ich hätte nicht gedacht, dass mir das passieren würde. Die Kinder waren da ein halbes Jahr und drei Jahre alt. Es war für uns drei eine schwere Zeit.

 

Kümmert sich der Vater mit um die beiden gemeinsamen Kinder?

Adriana Kolliski: Sie waren jedes zweite Wochenende bei ihm. Anfangs hatten wir große Schwierigkeiten, uns in der neuen Situation zurechtzufinden. Die neue Frau an der Seite meines Ex-Mannes war da nicht gerade hilfreich. Aber wir haben uns zusammengerauft. Es funktionierte wirklich gut, bis die nächste Partnerin in sein Leben trat und die Probleme von vorn losgingen. Es gab Zeiten, da wollten die Mädels gar nicht mehr zu ihm.

 

Würden Sie sich wieder einen Mann an Ihrer Seite wünschen?

Adriana Kolliski: Klar gibt es immer wieder Situationen, in denen man Unterstützung braucht. Ich bin sehr selbstständig, aber es sind so wahnsinnig viele Entscheidungen tagtäglich zu treffen, da wäre es manchmal hilfreich, die Last und Verantwortung zu teilen. Aber ich bin mit meinem Leben ohne Partner zufrieden. Ehrlich gesagt, möchte ich mich derzeit auch nicht noch zusätzlich um einen Mann kümmern müssen. Ich kenne nicht wenige Frauen, die in einer Beziehung sind, arbeiten gehen und genauso wie ich Haushalt und Erziehung fast allein managen müssen.

Janet Lejcek: Adriana spricht da einen interessanten Punkt an: die Ungleichverteilung von unbezahlter Hausarbeit und Kinderbetreuung zwischen Mann und Frau (Gender Care Gap, Anm. d. Red.). Leider wird die sogenannte Sorgearbeit auch heute noch größtenteils den Müttern überlassen. Das trägt dazu bei, dass Paare nach der Geburt der Kinder oft in traditionelle Rollenmuster verfallen und Frauen ihre Erwerbsarbeit zugunsten unbezahlter Arbeit reduzieren. Kommt es dann zur Trennung und Scheidung, kann das für sie erhebliche finanzielle Nachteile haben.

 

Gehen Sie arbeiten, Frau Kolliski?

Adriana Kolliski: Ja, und ich bin glücklich, jetzt eine Anstellung zu haben. Es war sehr schwer, all die Jahre einen Job zu finden, weil ich nur halbtags arbeiten wollte, um nachmittags für die Kinder da sein zu können. Durch meinen Alleinerziehenden-Status haben wir lange Zeit vorrangig von Arbeitslosengeld II gelebt. Sehr häufig war ich Aufstockerin.

Janet Lejcek: So geht es ganz vielen. 5.300 Alleinerziehende in Marzahn-Hellersdorf sind auf die staatliche Grundsicherung angewiesen, also fast 40 Prozent. Ein großer Teil davon muss aufstocken.

 

Das heißt, die Leute gehen zwar arbeiten, aber der Verdienst reicht einfach nicht zum Leben.

Worauf mussten Sie verzichten, weil das Geld nicht reichte?

Adriana Kolliski: Natürlich schaut man ständig aufs Geld – beim Kauf von Lebensmitteln, Kleidung und allem, was man sonst noch so zum Leben braucht. Wir haben aber gelernt, mit wenig auszukommen. Mein Anspruch war es immer, dass die Kinder nichts missen müssen.

Als ich nach Berlin gekommen bin, habe ich übrigens gestaunt, was es hier alles kostenlos für Familien gibt: Kitaplatz, Schulessen, BVG-Schülerticket. Davon träumen die Sachsen nur.

Ich nutze für meine Kinder auch das Bildungs- und Teilhabepaket. Die Beantragung der Leistungen ist leider mit viel Aufwand verbunden.

Janet Lejcek: Du weißt, wo du dir Hilfe holen kannst, kämpfst dich durch den Bürokratie-Dschungel und bist darüber im Bilde, was dir finanziell zusteht. Das ist toll. Eine Menge Alleinerziehende haben dieses Wissen aber nicht.

 

Womit wir beim „Netzwerk Alleinerziehende“ und den Infopoints wären.

Janet Lejcek: Ganz genau. Es gibt neun solcher Beratungsstellen über den ganzen Bezirk verteilt. Sozialpädagog*innen bieten dort Sprechstunden speziell für Ein-Eltern-Familien an. Es geht dort zum Beispiel um Hilfe bei Antragsstellungen, bei Schulden, der Wohnungs- und Kitaplatzsuche, um den (Wieder-)Einstieg in Arbeit und Ausbildung, Trennungs- und Erziehungsfragen und Unterstützung im Alltag.

 

Sie, Frau Kolliski, gehen regelmäßig zum „Treffpunkt Alleinerziehend“. Was gefällt Ihnen daran?

Adriana Kolliski: Ich bin ja noch recht neu im Bezirk und kenne nicht so viele Leute. Wenn man tagein tagaus nur mit den Kindern zusammen ist, verspürt man das große Bedürfnis, auch mal mit Erwachsenen zu reden. Außerdem tut es einfach gut, sich mit anderen Alleinerziehenden auszutauschen. Wir treffen uns einmal im Monat.

 

Sie sind eine starke Frau. Aber gibt es etwas, das Sie nachts nicht gut schlafen lässt?

Adriana Kolliski: Ganz oft kreisen meine Gedanken um die Zukunft meiner Töchter. Ich weiß, dass Bildung das A und O ist, um später ein gutes Leben führen zu können. Aber wie die Mädchen ihren Weg finden, ohne dass ich Druck auf sie ausübe, welche Schulform die richtige ist und welche Freizeitbeschäftigung sinnvoll – das alles sind Fragen, die mich beschäftigen.

Janet Lejcek: Ihr seid extra nach Berlin gezogen, damit deine große Tochter hier eine bestimmte Schule besuchen kann. Daran erkennt man schon, dass dir die Bildung deiner Kinder sehr wichtig ist. Hut ab!

 

War es leicht, in der Stadt eine Wohnung zu finden?

Adriana Kolliski: Nein, das war ein ganz schöner Kampf. Unsere jetzige Wohnung in Hellersdorf ist tatsächlich die einzige gewesen, die wir überhaupt bekommen haben.

Janet Lejcek: Es ist in den vergangenen Jahren auch in Marzahn-Hellersdorf immer schwieriger geworden, an eine günstige Wohnung zu gelangen. Mit dem Thema beschäftigen wir uns im Netzwerk aktuell sehr intensiv, denn drohende Wohnungslosigkeit wächst unter Alleinerziehenden massiv. Die Gründe sind vielfältig: Mietschulden spielen eine Rolle. Außerdem muss ja in der Regel einer aus der Wohnung raus, wenn Paare sich trennen. Trifft es die alleinerziehende Mutter oder den alleinerziehenden Vater mit den Kindern und ist noch dazu das Geld knapp, wird es schwierig, eine neue Bleibe zu finden. Die Politik hatte das lange nicht auf dem Schirm. Hier in Marzahn-Hellersdorf bildet sich gerade eine Arbeitsgruppe. Die Gleichstellungsbeauftragte, das Sozialamt und verschiedene Akteure aus dem Bezirk, darunter auch das „Netzwerk Alleinerziehende“, wollen das Thema präsent machen und Lösungen finden, wie Familien in solchen Situationen geholfen werden kann.

 

Was müsste sich noch ändern, damit es Single-Eltern besser geht?

Janet Lejcek: Zunächst ist mir wichtig, zu betonen, dass die Ein-Eltern-Familie eine ganz normale Familienform ist. Aber es gibt eine Reihe von Rahmenbedingungen, die nicht stimmen, und das stellt Alleinerziehende mitunter vor Probleme. Man könnte zum Beispiel darüber nachdenken, die angesprochene unbezahlte Sorgearbeit zu entlohnen. Auch die unfaire Besteuerung und moderne Arbeitszeitmodelle sind ein Thema. Ich bin selbst Single-Mama, habe zwei Kinder und finde zeitliche Entlastung enorm wichtig. Das fängt bei der Kinderbetreuung an. Die muss flexibler werden. In Lichtenberg gibt es dazu ein sehr erfolgreiches Projekt. Dabei handelt es sich um eine unbürokratische, flexible und kostenfreie Kinderbetreuung durch Fachkräfte, die es Alleinerziehenden ermöglicht, für ein paar Stunden wichtige Erledigungen zu tätigen oder sich auch mal um sich selbst zu kümmern, während sie ihren Nachwuchs in guten Händen wissen. Wir arbeiten gerade daran, ein solches Projekt auch für Marzahn-Hellersdorf auf den Weg zu bringen.

Adriana Kolliski: Das finde ich gut. Nach der Trennung von meinem Mann ging es mir sehr schlecht. Um als Mutter funktionieren zu können, musste ich ganz schnell lernen, mir auch mal Zeit für mich zu nehmen.

Janet Lejcek: Ja, und das wird oft verkannt. Manche können sich nicht mal die Zeit nehmen, wichtige Vorsorgeuntersuchungen beim Arzt wahrzunehmen – geschweige dann für Sport oder gesunde Ernährung. Das wird zunehmend zum Problem. Die Gesundheitsförderung von Alleinerziehenden wollen wir daher künftig noch mehr in den Blick nehmen.

 

Im September hat Ihr Netzwerk wieder eine Ausbildungstour für Single-Eltern veranstaltet. Wie ist das gelaufen?

Janet Lejcek: Diesmal haben wir mit einer Handvoll Müttern in den Arbeitsalltag von Kita- und Horterzieherinnen geschnuppert. Für eine der Teilnehmerinnen ist gleich ein Ausbildungsplatz herausgesprungen. Darüber freuen wir uns sehr. Es gibt unter den Alleinerziehenden hier im Bezirk einen nicht unerheblichen Anteil von Eltern ohne Berufsausbildung, manchmal sogar ohne Schulabschluss, auch weil die Zahl der Teenager-Schwangerschaften wieder zunimmt. Diese Frauen beim (Wieder-)Einstieg in Beruf, Ausbildung und Schule zu unterstützen, ist uns ein besonderes Anliegen. Alle Ein-Eltern-Familien, die ich bisher kennenlernen durfte, haben ein ganz tiefes Bedürfnis, sich selbst zu finanzieren und unabhängig zu sein.