Wo sind die Lesben in Marzahn-Hellersdorf?


Interview mit Kathrin Schultz, Leiterin eines neuen queeren Projekts im Bezirk

Wo sind die Lesben in Marzahn-Hellersdorf?

Obwohl wir im Jahr 2020 leben, sind Frauen, die Frauen lieben, in unserer Gesellschaft noch immer kaum sichtbar – ob auf der Straße oder in den Medien, im Job, der Schule oder bei politischen Entscheidungen. Der Berliner Verein LesLeFam will das ändern. Er setzt sich für eine positive Wahrnehmung von Lesben und eine lebendige lesbische Infrastruktur ein – auch bei uns im Bezirk, wo gerade das Projekt „Lesben in Marzahn-Hellersdorf stärken!“ angelaufen ist. Symbolischer Auftakt war Mitte Mai vor dem Rathaus beim Hissen der Regenbogenfahne.

Ihr inneres Coming-out erlebte Kathrin Schultz mit 16. „Zufällig war eine Klassenkameradin auch lesbisch. Wir haben uns ineinander verliebt. Aber es hat drei Jahre gedauert, bis wir uns dazu bekennen konnten.“ So lange machten die beiden Mädchen ihre Homosexualität so ziemlich mit sich allein aus. „Meine Eltern sind echt cool, aber sie haben das leider nicht geschnallt.“ Support aus der Schule? – Fehlanzeige. Das Internet steckte noch in den Kinderschuhen. In der Bibliothek habe sie sich an die wenigen Ratgeber zum Thema nicht herangetraut und Treffpunkte oder Anlaufstellen gab es in ihrer Heimatstadt Neubrandenburg erst recht nicht. Also „flüchtete“ Kathrin Schultz aus Meck-Pomm nach Berlin. 

 

ZUSAMMENARBEIT MIT MATILDE UND HELLMA

Heute lebt sie mit ihrer vierjährigen Tochter, der Co-Mutter und deren Sohn in einer WG nahe dem S-Bahnhof Ahrensfelde, arbeitet als Sozialpädagogin im Bereich der Wohnhilfen und macht seit nunmehr 20 Jahren queere Politik in der Hauptstadt. Ihre Expertise und Vernetzung bringt Kathrin Schultz unter anderem bei „Lesben leben Familie“ – kurz LesLeFam – ein. Der feministische Verein wurde 2018 gegründet und ist nun auch in Marzahn-Hellersdorf aktiv. Gemeinsam mit den Frauenzentren Matilde in Hellersdorf und HellMa in Marzahn will LesLeFam lesbische Treffpunkte für Beratungen, offene Gruppen, Stammtische und andere Veranstaltungen etablieren. Ideen für Formate gebe es viele, „aber wir sind da völlig offen und wollen die Angebote gemeinsam mit den Frauen entwickeln“, sagt Schultz, die das Projekt koordiniert. Der Bezirk unterstützt die Arbeit in diesem Jahr mit einer kleinen Summe in Höhe von 5.000 Euro.

 

WOZU ÜBERHAUPT TREFFPUNKTE FÜR LESBEN?

Die Frage, ob es Anlaufstellen für Lesben in Marzahn-Hellersdorf denn überhaupt brauche, kann die 41-Jährige ganz klar bejahen. Begegnungsorte, Projekte, Geschäfte und Bars für frauenliebende Frauen fänden sich überwiegend in Kreuzberg, Friedrichshain, Neukölln und Schöneberg. Der Ostteil der Stadt sei mit lesbischer Infrastruktur hingegen eher dünn besiedelt. Aber Lesben gibt es natürlich auch hier. Kathrin Schultz geht davon aus, dass im 270.000-Einwohner-Bezirk über 10.000 homosexuelle Frauen leben. Sie in ihrer Lebensvielfalt sichtbar zu machen und zu unterstützen, ist Hauptanliegen von LesLeFam. 

 

FRAUENLIEBE BLEIBT OFT PRIVAT ODER VERBORGEN

Die Unsichtbarkeit von Lesben, erläutert Kathrin Schulz, habe viele Facetten. Ein großes Problem sei, dass lesbische Liebe noch immer überwiegend im Privaten oder gar Verborgenen stattfinde. „Man hört von Leuten: Macht, wie ihr denkt, aber bitte verschont uns damit. Wir wollen das nicht sehen.“ Dabei sollten Lesben ihre Orientierung genauso offen ausleben dürfen wie alle anderen. Doch die Realität sieht anders aus: Aus Angst vor homophoben Übergriffen oder weil sie keinen Bock auf dumme Sprüche haben, verzichten Paare nicht selten darauf, Hand in Hand durch die Straßen zu gehen oder in der Bahn zu knutschen. Dass sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität noch immer Anlass für Gewalt sind, belegt auch ein Blick in die Statistik: So haben in Berlin die Attacken auf Homo- und Transsexuelle um 32 Prozent zugenommen. 

 

MUTTER, VATER, KIND – DA GIBT‘S NOCH MEHR

Dagegen hilft in erster Linie ein offener Umgang mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt – auch schon in Kitas, vor allem aber in Schulen. Kathrin Schultz spricht sich dafür aus, dem Thema in der Ausbildung von Erzieher*innen und Lehrer*innen einen höheren Stellenwert beizumessen. Zudem könnten im Unterricht mehr Bücher und Materialien genutzt werden, die neben der klassischen Mutter-Vater-Kind-Konstellation unterschiedliche Familienmodelle berücksichtigen. Bei der Kommunikation mit den Kindern und Jugendlichen wünsche sie sich mehr Sensibilität, erklärt die Sozialpädagogin. Statt ein Mädchen mit Liebeskummer zu fragen, wie der Junge denn heiße, wäre die Frage „Wie heißt er oder sie denn?“ viel neutraler. „Mir hätten solche Äußerungen in meiner Schulzeit sehr geholfen, weil ich nicht das Gefühl gehabt hätte, anders zu sein.“

 

BERATUNG: VON COMING-OUT BIS ADOPTIONSRECHT

Es lohne sich, über solche und andere Dinge nachzudenken, findet Kathrin Schultz. Das Projekt „Lesben in Marzahn-Hellersdorf stärken!“ könne dazu einen Anstoß geben und Aufklärung über lesbisches Leben leisten. In den Beratungen mit den Frauen gehe es um das innere und äußere Coming-out, um arbeitsrechtliche Fragestellungen, Familienformen, Kinderwunsch, Adoptionsrecht, Elternrollen und vieles mehr. Was den meisten gar nicht bewusst ist: Oft sehen sich Lesben doppelter Diskriminierung ausgesetzt: als Frauen und als Homosexuelle – zum Beispiel im Job. So müssen sich Lesben in Führungspositionen in einer nach wie vor männerdominierten Welt behaupten und gleichzeitig um Akzeptanz wegen ihrer sexuellen Orientierung kämpfen. Weil sie Benachteiligung fürchten, outen sich deutlich weniger Frauen als Männer am Arbeitsplatz. Diskriminierung erfahren Lesben aber auch bei der Familiengründung. So zahlen die Krankenkassen verheirateten lesbischen Paaren keine künstliche Befruchtung, heterosexuellen Ehepaaren hingegen schon. Und wenn zwei Frauen ein Kind kriegen, muss die Co-Mutter ein langwieriges Adoptionsverfahren durchlaufen, ehe sie auch ganz offiziell als Mama anerkannt wird. Anders sieht es bei heterosexuellen Paaren aus: Da reicht eine Unterschrift des Mannes, ganz gleich, ob er nun leiblicher Vater ist oder nicht.  

 

 

NEUES PROJEKT

Lesben in Marzahn-Hellersdorf stärken 

Infos und Beratung: 

T. (030) 58 76 55 29

E-Mail: marzahn.hellersdorf@leslefam.de

Web: www.leslefam.de