Nicht über Köpfe hinweg, sondern auf Augenhöhe

Marzahn-Hellersdorfs neue Behindertenbeauftragte:

Auf Augenhöhe – nicht über Köpfe hinweg

Yvonne Rosendahl macht sich für Inklusion stark. © pressefoto-uhlemann.de
Yvonne Rosendahl macht sich für Inklusion stark. © pressefoto-uhlemann.de

Sollte sie jemals Berührungsängste gegenüber Personen mit Behinderung gehabt haben, liegt das schon eine ganze Weile zurück. Bereits als Jugendliche machte sich Yvonne Rosendahl für Inklusion stark – zu einer Zeit, als dieser Begriff nur ausgewiesenen Fachleuten etwas sagte. Auch beruflich hat das Thema die heute 40-Jährige immer begleitet. Zuletzt war sie sozialpädagogische Koordinatorin bei einem Assistenzpflegedienst, der berlinweit Menschen mit Behinderung dabei unterstützt, ein selbstbestimmtes Leben in der frei gewählten Wohnform zu führen. Nun ist die Sprach- und Erziehungswissenschaftlerin Marzahn-Hellersdorfs neue Behindertenbeauftragte – und seit knapp 100 Tagen im Amt. „Die Hellersdorfer“ traf sie zum Interview.

 

Frau Rosendahl, wie sind die ersten Monate im neuen Job gelaufen?

Durch Corona war es natürlich ein ziemlich schräger Start. Ich hatte mir schon vorgestellt, gleich am Anfang mehr im Bezirk unterwegs zu sein, um Träger und andere Akteurinnen und Akteure kennenzulernen. Das war so nicht möglich. Nach wie vor führe ich Telefon- und Videokonferenzen mit Menschen, denen ich persönlich noch nie begegnet bin. Aber ganz allmählich finden die ersten Treffen von Gremien und Arbeitsgruppen statt. Besonders froh bin ich, dass der Behindertenbeirat wieder tagen darf.

 

Eine gute Zusammenarbeit mit dem Gremium ist ihnen also wichtig.

Ja, unbedingt. Der Beirat ist für mich hier im Bezirk Ansprechpartner Nummer eins. Dort sind viele Menschen mit Behinderung vertreten, auf deren Expertise ich angewiesen bin. Denn mir ist bewusst, dass ich immer durch die Brille einer nichtbehinderten Person sehe. Um sicherzugehen, dass mein Vorgehen und alle Entscheidungen, die getroffen werden, tatsächlich den Bedürfnissen der Menschen mit Behinderung entsprechen, ist ein enger Austausch unerlässlich.

 

Menschen mit und ohne Behinderung haben im Alltag noch immer sehr selten Berührungspunkte. Wie ist das bei Ihnen persönlich?

Berührungspunkte gab es schon früh. Mit 14 oder 15 Jahren bin ich in meinem Heimatort dem „Arbeitskreis Behinderter und Nichtbehinderter“ beigetreten. Wir sind regelmäßig gemeinsam verreist, haben auch sonst viel Freizeit miteinander verbracht und uns gegenseitig unterstützt. Schon damals fand ich es total absurd, dass wir im Rahmen der Aktivitäten eine tolle Zeit und einen ungezwungenen Umgang miteinander haben konnten, unsere Leben danach aber wieder völlig getrennt voneinander stattfanden. Die Menschen mit Behinderungen wurden zurück in ihren Mikrokosmos geschickt, also nach Hause zu den Eltern oder in irgendwelche institutionellen Einrichtungen. 

Seitdem hat sich natürlich auch einiges getan.

 

Wie behindertenfreundlich ist denn Marzahn-Hellersdorf?

Da gibt es in allen Bereichen noch viel Luft nach oben. Aber Marzahn-Hellersdorf steht nicht besser oder schlechter da als andere Berliner Bezirke. Ein großes Problem ist der Mangel an bezahlbarem und barrierefreiem Wohnraum. Täglich erreichen mich dazu Anrufe von verzweifelten Bürgerinnen und Bürgern. Mich stört, dass im Rahmen von Neubauprojekten prozentual noch immer viel zu wenig barrierefreie Wohnungen entstehen, dabei würde das nicht nur den knapp 50.800 Menschen zugutekommen, die in Marzahn-Hellersdorf per Definition eine Behinderung haben, sondern zum Beispiel auch Seniorinnen und Senioren oder auch Familien. Besonders ärgerlich ist, dass nicht überall, wo „barrierefrei“ draufsteht, auch barrierefrei drinsteckt. Wenn zum Beispiel Rollstuhlfahrende feststellen müssen, dass sie in der als „barrierefrei“ ausgewiesenen Wohnung zwar gut zurechtkommen würden, es im Haus aber überhaupt keinen Aufzug gibt, ist das enttäuschend.

 

Was haben Sie sich für Ihr neues Amt vorgenommen?

Ganz oben auf der Agenda steht die Erstellung eines Aktions- und Maßnahmenplans zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Das ist ein langfristiges Projekt, an dem viele Menschen im Bezirksamt beteiligt sein werden: Ziel ist es, mit sinnvollen Maßnahmen die Situation von Menschen mit Behinderung in Marzahn-Hellersdorf zu verbessern. Dafür muss in einem ersten Schritt der Ist-Zustand erfasst werden. Dieses Papier wird zum großen Teil Grundlage meiner Arbeit sein.

 

Und kurzfristige Projekte?

Die Wiederbelebung des Behindertenparlaments wäre eine gute Sache. Neben politischer ist aber beispielsweise auch kulturelle Teilhabe wichtig. Ich fände es daher schön, würde es uns gelingen, mehr kulturelle Veranstaltungen im Bezirk zu verankern, die erstens barrierefrei zugänglich sind und an denen zweitens auch Kreative mit Behinderung beteiligt sind.

 

Welchen Stellenwert hat inklusive Bildung für Sie?

Das ist ein total wichtiges, aber auch extrem schwierig anzugehendes Thema. Mit welcher Grundvoraussetzung sie auch immer in dieses Leben starten, sollten Kinder gemeinsam beschult werden können. Leider haben wir hier in Deutschland ein völlig veraltetes, komplett auf Selektion ausgelegtes Schulsystem. Den inklusiven Gedanken dort hineinzuwerfen, kann nicht gut funktionieren. Andere Länder sind da schon weiter. Wir brauchen auch hierzulande neue sinnvolle Konzepte, bei deren Entwicklung Menschen mit Behinderung unbedingt einbezogen werden sollten. Es muss endlich in den Köpfen ankommen, dass Menschen mit Behinderung Expertinnen und Experten in eigener Sache sind.