Die Tierschutzpartei und ihr historischer Erfolg in Marzahn-Hellersdorf

Ziemlich groß unter den Kleinen

Die Tierschutzpartei und ihr historischer Erfolg in Marzahn-Hellersdorf

Inka Seidel-Grothe ist Fraktionsvorsitzende der Tierschutzpartei in der BVV.
Inka Seidel-Grothe ist Fraktionsvorsitzende der Tierschutzpartei in der BVV.

Seit ihrer Gründung 1993 wurde die Tierschutzpartei in Wahldiagrammen üblicherweise in der letzten Säule unter „Sonstige“ geführt. Das war einmal – zumindest auf kommunaler Ebene. In gleich vier Berliner Bezirken hüpfte die Kleinstpartei locker über die Drei-Prozent-Hürde direkt in die Bezirksverordnetenversammlungen. Historisch gut war das Abschneiden in Marzahn-Hellersdorf. Wir haben mit der Fraktionsvorsitzenden Inka Seidel-Grothe (58) darüber gesprochen.

Frau Seidel-Grothe, müssen Sie sich Wochen nach dem Wahlerfolg noch immer piksen?

(Lacht). Man kommt doch schnell wieder in die reale Welt zurück. Aber ich muss gestehen, ich genieße die Aufmerksamkeit für unsere Partei gerade ein bisschen. Es hagelte Glückwünsche, Gesprächsangebote und Presseanfragen. Mein Handy glüht seit dem Wahlabend. 

 

Haben Sie den Erfolg so erwartet?  

Es war schon erklärtes Ziel, bei einigen BVV-Wahlen die Drei-Prozent-Hürde zu knacken. Dass es in Marzahn-Hellersdorf sogar für fünf Prozent und drei Mandate gereicht hat, ist großartig und bundesweit einmalig in der 30-jährigen Geschichte der Tierschutzpartei.

 

Warum ausgerechnet Marzahn-Hellersdorf? 

Ich denke, dass wir im Wahlkampf vier verschiedene Wählergruppen mitnehmen konnten: Einerseits sind die Themen, für die wir uns einsetzen, endlich im Mainstream angekommen. Es gibt viele Leute, die begreifen, dass in Sachen Klima-, Natur- und Tierschutz, in der Umwelt-, Agrar- und Verbraucherpolitik schleunigst etwas passieren muss. Es ist fünf nach zwölf. Ich kann da etliche Beispiele anführen: Corona zum Beispiel hat sehr viel mit Tieren zu tun. Die Meldungen über Schlachthofskandale und Antibiotika in der Massentierhaltung nehmen zu. Naturkatastrophen­ häufen sich dramatisch. Die Afrikanische Schweinepest ist auf dem Vormarsch. Die Lebensmittelindustrie verschaukelt uns mit angeblichen Tierwohl-Labels. Das Ackergift Glyphosat kommt nach wie vor zum Einsatz … So kann es nicht weitergehen. Und immer mehr Menschen trauen uns zu, diese Themen ernsthaft anzugehen.

 

Und die anderen drei Gruppen, von denen Sie sprachen?

Im Wahlkampf bin ich mit vielen Nicht- und Frustrationswählern ins Gespräch gekommen. Die haben ihr Vertrauen in die großen Parteien verloren. Nicht wenige von denen meinten uns gegenüber: Tierschutzpartei? – Klingt eigentlich gut. Da kann man doch nichts falsch machen.

Außerdem, denke ich, haben wir einen nicht unerheblichen Teil von Wählern überzeugen können, die früher bei den Grünen ihr Kreuz gemacht haben. Das ist die dritte Gruppe. Diese Menschen sind enttäuscht davon, in welche Richtung sich die Partei entwickelt hat. 

Die letzten Prozentpunkte, also warum wir in Marzahn-Hellersdorf nicht bei drei oder vier, sondern bei fünf Prozent gelandet sind, könnte vielleicht auf meine Person zurückzuführen sein. Ich bin seit vielen Jahren hier im Bezirk aktiv. Die Leute kennen mich auch von den Hühnerseminaren, die ich in meinem Garten in Biesdorf mit Kitagruppen und Schulklassen durchführe. Manchmal sprechen mich sogar Leute auf der Straße, oder beim Einkaufen mit den Worten an: „Sie sind doch die Hühner-Frau.“

 

Wie viele gefiederte Mitbewohner haben Sie denn?

Zwei Hähne und fünf Hühner. Auf der Internetseite www.mutiges-huhn.de kann man alles über das Projekt erfahren.

 

Bis Ende 2020 waren Sie noch bei den Grünen. Warum sind Sie dort weg?

Das ist mir nicht leichtgefallen. Man verlässt nicht von heute auf morgen sein Zuhause. Ich bin schon immer sehr aktiv in der Tierschutzpolitik gewesen und war sowohl Mitglied in der Landes- als auch in der Bundesarbeitsgemeinschaft. Dort ist irgendwann nicht nur bei mir der Frust über die Politik der Grünen groß geworden, weil sie zu oft Kompromisse eingegangen sind – ob beim Kükenschredder-Verbot oder der Kastenstandhaltung von Schweinen. 

 

Und auf Bezirksebene?

Da hätte ich mir mehr Unterstützung gewünscht, als es darum ging, mit Bürgerinitiativen und Bürgern um deren Natur, Umgebung und Bäume zu kämpfen. Beispiel Lemkestraße, TVO oder das gescheiterte Waldkindergarten-Projekt im Buckower Ring. Ich will nach wie vor die Welt retten, die Natur erhalten und kämpfe um jeden einzelnen Baum. Bei den Grünen ist das in den Hintergrund geraten. Dafür stehen jetzt Sachen wie queere Politik mehr auf der Agenda.

 

Wofür wird sich die Tierschutzpartei in Marzahn-Hellersdorf einsetzen?

Für Bäume, unsere Stadtnatur, auch für Kleingärten, Brachflächen und den Erhalt der grünen Innenhöfe in der Großsiedlung. Wir wünschen uns mehr Blühwiesen in Marzahn-Hellersdorf und sprechen uns dafür aus, dass die Mitarbeiter im Grünflächenamt aus Rücksicht auf Flora und Fauna seltener zu elektrischen Gerätschaften wie Laubpustern greifen. Außerdem stehen wir für bürgernahe Politik. Wir hören den Menschen zu, nehmen sie wahr und ernst und wir versuchen in ihrem Sinne den Bezirk mitzugestalten. Sofort nach der Wahl haben sich mehrere Bürgerinitiativen an uns gewandt, die sich dagegen wehren, dass Marzahn-Hellersdorf komplett mit Wohnungen zugebaut wird.

 

Aber es kommen nun mal viele Leute in die Stadt und die brauchen ein Dach über dem Kopf. 

Wir sind uns mit den anderen Parteien ziemlich einig, dass die exzessive Verdichtung einfach aufhören muss und jetzt auch andere Bezirke mit Wohnungsbau dran sind. Für die Menschen aus den Neubaugebieten bedeutet ihr grüner Innenhof Lebensqualität und die wird gerade zerstört. Das können wir nicht zulassen.

 

SPD, Linke und Grüne schmieden ein Bündnis für den Bezirk und wollen auch die Tierschutzpartei ins Boot holen. Wie liefen die Gespräche bislang?

Sehr gut. Es geht nicht ausschließlich darum, den Spitzenkandidaten der SPD zum Bürgermeister zu machen. Wir haben das Gefühl, dass die anderen Parteien uns ernst nehmen und bestrebt sind, in den kommenden Jahren mit uns zusammenzuarbeiten, um das Beste für den Bezirk herauszuholen. 

 

Haben Sie denn schon Forderungen gestellt?

Ich denke, unsere kritische Haltung gegenüber Nachverdichtung und Versiegelung ist in den Gesprächen deutlich zum Ausdruck gekommen. Außerdem haben wir auch gefordert, dass der Ausschuss für Umwelt, Natur, Verkehr und Lokale Agenda um ein weiteres Themengebiet erweitert wird: den Tierschutz.