Autistische Kinder: Wenn die Schulpflicht zum Problem wird

Stephanie Fuhrmann kämpft um das Sorgerecht für ihren Sohn

Autistische Kinder: Wenn die Schulpflicht zum Problem wird

Jedes Kind ist etwas Besonderes. Manche Kinder aber sind „anders“, zum Beispiel Autisten. Wie weit gehen hier Elternrechte und die Verantwortung des Staates zusammen? Mit diesen Fragen muss sich das Familiengericht beim Amtsgericht Kreuzberg im Fall einer Mutter aus Mahlsdorf auseinandersetzen. 

Die Mutter, Stephanie Fuhrmann, hat zwei autistische Kinder, einen elfjährigen Sohn und eine siebenjährige Tochter. Letztere besucht gegenwärtig die zweite Klasse einer Grundschule. Für den Sohn konnte die Mutter bisher keine geeignete Schule finden. Er lernt vorerst allein und zu Hause im Fernunterricht. „Bevor die Bedingungen nicht gegeben sind, kann ich ihn nicht an eine Schule geben“, sagt Fuhrmann.  Mit dieser Haltung ist der zuständige Schulrat Mathias Wulff von der Schulaufsicht Marzahn-Hellersdorf nicht einverstanden. Er sieht in dem Vorgehen der Eltern den Tatbestand der Kindeswohlgefährdung und hat im Juli beim Familiengericht eine Anhörung beantragt. Die Eltern leben getrennt, haben aber beide das Sorgerecht für die zwei Kinder. Sollte das Gericht eine Gefährdung des Kindeswohls feststellen, könnte ihnen das Sorgerecht entzogen und an eine vom Amt bestellte dritte Person gegeben werden. Stephanie Fuhrmann nahm sich deshalb einen Rechtsbeistand. 

 

Worin der Streit zwischen Eltern und Schulrat letztendlich wurzelt, lässt sich ungefähr so schwer fassen wie das Phänomen des Autismus selbst. Dieser gilt allgemein als tiefgreifende Entwicklungsstörung, die sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann und Einschränkungen mit sich bringt. Autisten nehmen Reize aus ihrer Umgebung wie Lärm oder Berührungen durch Fremde intensiver wahr. Bei starker Ausprägung kann das unter Stress und Überlastung zu schweren Zusammenbrüchen führen. Andererseits können Autisten sich vielfach sehr gut auf bestimmte Dinge konzentrieren, was sie oft zu besonderen Leistungen befähigt.

 

Mit alldem hat sich Stephanie Fuhrmann in besonderer Weise auseinandersetzen müssen, denn sie ist selbst Autistin. Das und das Beispiel ihrer Kinder hat sie angeregt, vor sechs Jahren den Verein „White Unicorn“ mitzugründen. Dieser setzt sich dafür ein, Bedingungen an Schulen zu schaffen, unter denen auch autistische Kinder am Regelunterricht teilnehmen können. Ein entsprechendes Forschungsprogramm läuft gegenwärtig als gemeinsames Projekt des Vereins in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern der Humboldt Universität Berlin und der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Stephanie Fuhrmann ist daran als wissenschaftliche Mitarbeiterin beteiligt. 

 

Wie Schulrat Wulff zu diesen Bemühungen steht, darauf hat er der „Hellersdorfer“ auf schriftliche Anfrage keine Antwort gegeben. „Aus meiner Sicht stellen die Eltern … die Schulbesuchspflicht grundsätzlich in Frage“, schreibt er in seiner Begründung an das Gericht.

Stephanie Fuhrmann verweist auf ihre Aktivitäten im Forschungsprojekt. Nach ihrem Eindruck habe sich die Zusammenarbeit mit dem Schulamt nach dem Leitungswechsel vor drei Jahren erheblich verschlechtert. Sie habe ein gewisses Verständnis dafür, dass der Schulbetrieb für die Masse der Kinder unter den gegebenen Bedingungen aufrechterhalten werden muss. Das Recht von autistischen Kindern auf das gemeinsame Lernen mit anderen Kindern sollte aber angemessen berücksichtigt werden. 

 

Im konkreten Fall ihres Sohnes weist der Schulrat das Gericht auf Angebote des Schulamtes hin. Hierzu gehörte ein Platz an der Temple-Grandin-Schule, Schwerpunkt Unterrichtung autistischer Kinder. Fuhrmann lehnte ab. „Die Schule liegt in Friedrichshain. Mein Sohn erträgt keine langen Fahrten“. Auch ein Versuch an der Ulmen-Grundschule in Kaulsdorf scheiterte. Das Kind besuchte probehalber einen Begabtenkurs für Mathematik. Nachdem jedoch wegen Mangels an Platz in einen Raum gewechselt werden musste, in dem es für ihn zu laut war, nahm die Mutter den Sohn wieder von der Schule.

 

Der bisher letzte Versuch, das Kind an einer Regelschule unterzubringen, ist die private Best-Sabel-Grundschule in Mahlsdorf. Hier blieb es jedoch bei einem Unterricht auf Probe zunächst nur für wenige Wochen. „Meinen Sohn regulär aufzunehmen, dagegen hat die Schule Vorbehalte“, erklärt Stephanie Fuhrmann. Die Förderung für autistische Kinder seitens des Senats sei an privaten Schulen geringer als an staatlichen Schulen. Das Gericht, das in dieser Sache noch nicht entschieden hat, beauftragte Schulrat Wulff, bis Ende Dezember mit der Best-Sabel-Schule nochmals zu klären, unter welchen Bedingungen die Aufnahme des Jungen dort möglich wäre. 

 

Harald Ritter