100 Tage im Amt, 100 Schulbauprojekte vor der Brust

Interview mit Stadtrat Dr. Torsten Kühne

100 Tage im Amt, 100 Schulbauprojekte vor der Brust

Dr. Torsten Kühne war vorher zehn Jahre in Pankow Stadtrat © pressefoto-uhlemann.de
Dr. Torsten Kühne war vorher zehn Jahre in Pankow Stadtrat © pressefoto-uhlemann.de

Das Büro von Dr. Torsten Kühne (CDU) im Rathaus am Alice-Salomon-Platz, sechster Stock, ist nur ein Provisorium und entsprechend spartanisch eingerichtet. Demnächst wird der aus Pankow nach Marzahn-Hellersdorf gewechselte Stadtrat einige Etagen tiefer sein festes Dienstzimmer beziehen. Bis dahin begnügt er sich mit wenigen Quadratmetern und dem Nötigsten: Schrank, Computerarbeitsplatz und ein Beratungstisch, auf dem sich Terminmappen und Aktenordner mit allerhand schwergewichtigen Themen von der Schulbauoffensive bis zur Digitalisierung türmen. 

Nach 100 Tagen im Amt haben wir mit dem promovierten Physiker über seinen neuen Arbeitsort und Herausforderungen gesprochen. Kühne, 46 Jahre alt, verantwortet im Bezirksamt die Bereiche Schule, Sport, Weiterbildung, Kultur und Facility Management.

 

■ Die vergangenen fünf Jahre hatten Sie Ihren Dienstsitz im ehemaligen Rathaus Weißensee – einem 100 Jahre alten Fabrikgebäude. Wie gefällt es Ihnen jetzt hier in der Hellen Mitte?

Natürlich versprüht ein funktionaler Büro- und Verwaltungskomplex aus den 1990er Jahren einen anderen Charme als ein altes denkmalgeschütztes Gebäude, das deutsche Geschichte geatmet hat. Aber dafür gefällt mir die Aussicht hier besser. Büro und Sekretariat liegen einander direkt gegenüber. Wenn beide Türen geöffnet sind, kann man fast ganz Hellersdorf überblicken. Auch die Anbindung ist top. Ich fahre meistens mit dem Rad an der Wuhle entlang und steige dann am Bahnhof Wuhletal in die S-Bahn ein.

 

■ Waren Sie überrascht, dass der Bezirk so schöne grüne Oasen zu bieten hat?

Marzahn-Hellersdorf ist mir ja keineswegs unbekannt. Als Kind fand ich es total spannend, mit den Öffis durch die Stadt zu touren. Ich weiß noch, dass die Straßenbahn in den 80er Jahren zuerst nur bis zur Allee der Kosmonauten fuhr, später weiter bis zur Elisabethstraße, dann nach Marzahn und schließlich bis Ahrensfelde. In den Ferien ging es oft nach Mahlsdorf-Süd zu den Großeltern und zum Baden an die Kaulis. Aber zugegeben: Das Wuhletal war mir nicht so präsent. Der Sonnenaufgang über dem Kienberg ist definitiv ein Highlight. 

 

■ Nach zehn Jahren als Stadtrat in Pankow müssen Sie jetzt einen völlig anderen Bezirk gestalten. Ist es vielleicht von Nachteil für den Job, nicht ganz so stark in Marzahn-Hellersdorf verwurzelt zu sein? 

Ich habe schon bei meiner Vorstellung im November gesagt, dass ich mit großem Respekt herkomme. Immerhin ist jeder Berliner Bezirk für sich eine Großstadt, die vor speziellen Herausforderungen steht. Aber es macht meines Erachtens keinen großen Unterschied, ob der Stadtrat nun aus Pankow, Friedrichshain, aus Köpenick oder Marzahn-Hellersdorf kommt. Mich jedenfalls hat kein bestimmter Bezirk geprägt. Geboren im Klinikum Buch, großgeworden erst im Prenzlauer Berg und dann im WBS 70 in Lichtenberg, bin ich durch und durch Ost-Berliner und damit ähnlich sozialisiert wie sehr viele Menschen hier. Wahnsinnig prägend war für mich die Wendezeit: Friedliche Revolution, Mauerfall, Wiedervereinigung – das werde ich nie vergessen. 

 

■ In Marzahn-Hellersdorf kommen arbeitsintensive Jahre auf Sie zu. Der Bezirk wächst seit Jahren und Sie verantworten ein riesiges Ressort. Haben Sie sich das gut überlegt?

Wachstum gab es auch in Pankow. Das kenne ich also schon (lacht). In der Tat entwickelt sich Marzahn-Hellersdorf sehr dynamisch. Die neueste Prognose des Senats zu den Schülerzahlen bestätigt das. Da sind wir berlinweiter Spitzenreiter. Aktuell lernen etwa 27.000 Kinder und Jugendliche an unseren öffentlichen Schulen. Bis Ende der 2020er Jahre kommen voraussichtlich 4.000 hinzu. Da wir schon jetzt ein Defizit von 3.000 Plätzen ausgleichen müssen, indem wir Schulstandorte überbelegen, sprechen wir alles in allem über eine Größenordnung von 7.000 zusätzlich benötigten Schulplätzen.

 

■ Das sind ja schwindelerregende Zahlen.

Die positive Botschaft lautet: Auf dem Papier hat Marzahn-Hellersdorf diese Plätze. Es sollen zwölf Neubauten entstehen, die gleichmäßig über den Bezirk verteilt sind und alle Schularten von der Grundschule bis zum Förderzentrum abdecken. Los geht es hoffentlich im Sommer 2023 mit der Eröffnung der neuen Grundschule am Naumburger Ring. 2024/25 soll der Standort in der Elsenstraße ans Netz gehen, im Jahr darauf das Gymnasium in der Erich-Kästner-Straße, danach die Integrierte Sekundarschule in der Garzauer Straße und so weiter. Zusätzlich sind 13 modulare Ergänzungsbauten (MEB) und acht Typensporthallen entweder in der Planung oder sogar schon in der Umsetzung.

 

■ Und was ist die schlechte Botschaft? Bereitet Ihnen die Kostenentwicklung Sorgen?

Aus den ursprünglich veranschlagten 5,5 Milliarden Euro für die 2016 gestartete Berliner Schulbauoffensive sind inzwischen über 14 Milliarden geworden. Nach wie vor steigen die Baupreise stark. Allein in Marzahn-Hellersdorf stehen in Summe über 100 Schulbauprojekte auf dem Plan, darunter auch originär bezirkliche Maßnahmen wie Sanierungen und Ausbauten. Ich bin Realist: Wenn alles immer teurer wird, könnte der eine oder andere Standort künftig noch zur Disposition stehen. Wir kämpfen dafür, dass es nicht so kommt und der Senat unseren Bedarf weiterhin anerkennt. Angesichts der dynamischen Entwicklung der Schülerzahlen in Marzahn-Hellersdorf sollten die Vorhaben hier auch prioritär umgesetzt werden. 

 

■ War es Ihnen für die Schulbauoffensive wichtig, beide Bereiche – Facility Management und Schule – zu übernehmen? In der letzten Legislaturperiode haben sich zwei Personen die Zuständigkeiten geteilt.

Unbedingt. Ich durfte schon in Pankow beides verantworten und habe andere Kollegen, die nur einen Bereich hatten, bedauert. Ein Großteil der Arbeit besteht darin, sich Informationen zu erkämpfen, um dann schnell reagieren, gegensteuern oder frühzeitig auf Dinge hinweisen zu können. Wenn Sie eine Bestandsschule umfangreich sanieren wollen, haben Sie es mit bis zu sechs Senatsverwaltungen und mit bis zu sieben Fachämtern auf bezirklicher Ebene zu tun. Wenn dann noch die Zuständigkeiten bei unterschiedlichen Abteilungen liegen, kann es durchaus passieren, dass manches nicht rechtzeitig zusammengedacht wird.

 

■ Mehrere Schulen platzen bereits aus allen Nähten. Wann ist eigentlich mit echter Entlastung zu rechnen?

Spürbare und nachhaltige Entlastung bringen nur die Neubauten. Das heißt: Es liegen mindestens noch zwei weitere harte Schuljahre vor uns. Kurzfristig werden wir an mehreren Standorten Container aufstellen müssen, den einen oder anderen Fachraum in ein Klassenzimmer umwandeln und gegebenenfalls auch Filialen bilden.

 

■ Ihre Partei, die CDU, hat gefordert, Marzahn-Hellersdorf solle nicht länger der Bezirk mit den meisten Busshuttles sein. Wo drohen wegen akuter Raumnot im nächsten Schuljahr Auslagerungen?

Die Vorbereitungen des nächsten Schuljahres laufen. So lange nicht klar ist, welche Kinder an freie Schulen gehen oder wie es um Wegzüge und Rückstellungen steht, halten wir uns mehrere Optionen offen. An der Friedrich-Schiller-Grundschule könnte es eng werden. Hier ist eine Filialbildung an der ISS Mahlsdorf im Gespräch. Weitere Standorte, die wir ganz genau im Blick haben müssen, sind die Johann-Strauss-Grundschule in Biesdorf und die Grundschule an der Wuhle in Hellersdorf.

 

■ Welche Themen wollen und müssen Sie neben der Mammutaufgabe, alle Kinder und Jugendlichen angemessen zu beschulen, in den nächsten Jahren noch so angehen?

Die Digitalisierung ist ein wichtiges Vorhaben. Jedes Klassenzimmer soll schnelles Internet bekommen. Wir müssen aber nicht nur die Schulen, sondern auch die Bürodienstgebäude des Bezirksamtes Gigabit-fähig machen. Die Zeit rennt: Bis 2025 soll vollständig auf die E-Akte umgestellt werden. Davon profitieren übrigens auch die Bürgerinnen und Bürger, weil sie viele Behördenangelegenheiten künftig ganz unkompliziert online erledigen können. 

Außerdem dürfen wir die Liegenschaftspolitik nicht vernachlässigen. Wo Tausende Wohnungen entstehen, werden im Umfeld Grundstücke für soziale und öffentliche Infrastruktur benötigt. Darüber hinaus liegen mir die Volkshochschule, unsere Bibliotheken und die kulturelle Szene sehr am Herzen. Letztgenannte braucht nach der Pandemie unbedingt Unterstützung. Da ist vieles in den vergangenen zwei Jahren kaputtgegangen. Ansonsten freue ich mich noch darauf, den Sportentwicklungsplan fortzuschreiben. 

 

■ Sind Sie ein sportlicher Typ?

Ich bezeichne mich eher als Grobmotoriker. Laufen, Schwimmen, Radfahren – das ist mein Ding. Bei allem, was mit Geschicklichkeit zu tun hat, bin ich raus. Insofern trifft „bewegungsaffin“ es wohl eher. Weil Sitzen ja bekanntlich das neue Rauchen ist, achte ich schon darauf, mich zwischen Schreibtischarbeit und Videokonferenzen regelmäßig aufs Rad zu schwingen. Da bekommt man auch den Kopf frei. Grundsätzlich ist Bewegungsmangel ein Phänomen unserer zivilisierten Gesellschaft. Dem müssen wir etwas entgegensetzen. Ein Baustein sind Angebote im öffentlichen Raum außerhalb klassischer Vereine und Sportstätten. 

 

■ Zum Schluss noch ein kleiner Blick in die Glaskugel: Wo steht Marzahn-Hellersdorf in fünf Jahren?

Wir haben dann idealerweise schon einen Großteil der 7.000 fehlenden Schulplätze geschaffen, sind einen gewaltigen Schritt beim Thema Digitalisierung vorangekommen und konnten hoffentlich gemeinsam die Nachwirkungen der Pandemie ein ganzes Stück aufarbeiten. Ich befürchte nämlich nicht „nur“ erhebliche Lerndefizite bei den Schülerinnen und Schülern, sondern ernsthafte psychische Probleme bei Kindern und Jugendlichen insbesondere aus benachteiligten Familien. 

Vielleicht gelingt es auch, mit attraktiven Ateliermöglichkeiten mehr Kreative in den Bezirk zu locken. Außerdem denke ich, ist es uns allen ein Anliegen, das Image von Marzahn-Hellersdorf näher an die Realität heranzurücken. Dazu tragen innovative Projekte wie ganz aktuell der Schulavatar bei. Unser Mini-Roboter hat es sogar in die Weltpresse geschafft. Die „New York Post“ und der indische Fernsehsender „New Delhi Television“ berichteten.