Verlorene Orte: Wohngebietsgaststätten

Neben den Wohnungen entstand ab den späten 70ern in der Platte auch Gastronomie

Verlorene Orte: Wohngebietsgaststätten

Die Großsiedlungen Marzahn und Hellersdorf gehörten mit grünen Innenhöfen und guter Infrastruktur zum Besten, was der soziale Wohnungsbau vor etwa 40 Jahren zu bieten hatte. Wie viele Kitas und Schulen, Gaststätten, Kaufhallen und Jugendclubs es brauchte, wurde früh festgelegt. Die komplexe Planung sei das, was heute fehle, sagen Expert:innen.

Wohngebietsgaststätten (auch Clubgaststätten genannt), Kaufhallen und Dienstleistungsgebäude standen als „Versorgungszentren“ im Mittelpunkt der einzelnen Neubaugebiete in Marzahn und Hellersdorf und dienten als Treffpunkte für die Kiezbewohner:innen. An den verschiedenen Standorten unterschiedlich platziert, wurden sie teilweise mit anderen Gebäuden um kleine Plätze gruppiert, um neue Räume zu schaffen. Darum sah das Einkaufszentrum am Biesdorfer Kreuz gestalterisch anders aus als das am Brodowiner Ring oder an den Ringkolonnaden. Aufgrund der veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nach dem Fall der Mauer gingen fast alle Einrichtungen vollständig verloren. Insbesondere die damals beliebten und individuell ausgestalteten Clubgaststätten, denen der erste Teil unseres „Rückspiegels“ gewidmet ist (Teil zwei erscheint in der Juni-Ausgabe), überlebten den unsubventionierten Betrieb nicht. Die meisten wurden schnell abgerissen. Andere wurden zum Ärger der Anwohner:innen bis zur Klärung der Eigentumsverhältnisse zu „Lost Places“, auch wenn sie mitunter noch kurzeitig als Discounter überleben durften.

 

Erst getypt … 

Die erste Clubgaststätte „Biesdorfer Kreuz“ – noch unter Verwendung des Berliner Typen- oder Wiederverwendungsprojektes – wurde am 24. Februar 1978 nach einem Entwurf von Friedrich Kalusche eröffnet. Wie alle künftigen Einrichtungen dieser Art – die „Feuerwache“ (1979), der „Akaziengrund“, die „Geißenweide“ (1981) und „Am Anger“ (1982) – bot sie auf rund 2.400 Quadratmetern Nutzfläche eine Speisegaststätte mit 130, ein Café mit 70 und einen Mehrzwecksaal mit 250 Plätzen. Letztgenannter diente mittags der Schüler:innen- und Rentner:innenspeisung. 

 

... und dann individueller

Ab Mitte der 1980er setzte sich unter Federführung von Wolf R. Eisentraut vom BMK Ingenieurhochbau Berlin ein größerer Spielraum bei der Gestaltung der Gaststätten durch. Die Bauten wurden individueller und geschmackvoller. Eisentraut ging es bei seiner Architektur darum, Funktion und Ästhetik mit den Bedürfnissen der Menschen zu verbinden. Daran ausgerichtet entwickelte er die Grundideen für den „Eulenspiegel (1983), die „Brunnenschänke“ (1984), „Zur Promenade“, „Zu den Eichen“, den „Uckermärker Krug“ (alle 1985) und den „Ahrensfelder Krug „(1987). Kreative Architektinnen wie Anne-Marie Lange, Heide-Rose Kristen und Liljana Labud gehörten zu seinem Entwurfsbüro.   

 

Nicht nur Stätten der gepflegten Gastlichkeit

Die von der HO oder dem Konsum betriebenen Clubgaststätten waren eine Kombination aus Restaurant, Kulturhaus und Kantine. Es waren Orte der Begegnung, an denen gegessen und getrunken, getanzt und gelacht, gefeiert und gesungen oder gekegelt wurde. Bekannte Künstler:innen traten dort auf, Brigaden stießen auf ihre Planerfüllung mit Nordhäuser Doppelkorn oder „vornehm“ mit Rotkäppchen Sekt an und auch Jugendweihen wurden ausgerichtet. Den Besucher:innen standen neben den Restaurant- und Caféplätzen eine zweiläufige Kegelbahn von 24,60 Metern Länge und im Sommer 40 Terrassenplätze zur Verfügung. Außerdem gaben die Clubgaststätten täglich 2.000 Mahlzeiten für die Schüler:innen der im Umfeld liegenden Schulen aus. 

 

Verschwundene klangvolle Namen

Da Hellersdorf ein „Gemeinschaftsprojekt“ aller 15 DDR-Bezirke war, wurden die Gaststätten dort nach den jeweiligen Regionen, nach Orten oder auch nur nach regionaltypischen Begriffen benannt. Die Clubgaststätten erhielten klangvolle Namen wie „Zum Feldrain“, „Zur alten Schäferei“ oder „Beerenpfuhl“ und hatten am Namen orientierte spezielle Gerichte auf der Speisekarte. Traurig berühmt wurde die HO-Gaststätte „Erntekranz“ an der Stollberger Straße. Sie war zur Wende fast fertig, aber zur Eröffnung kam es nicht mehr. 2021 verschwand dann mit der Gaststätte „Mecklenburg“ („Mecki“) an der Lion-Feuchtwanger-Straße die letzte ihrer Art. Die Räume waren zu dem Zeitpunkt schon längst nicht mehr für Gastronomie genutzt worden.

 

Beeindruckende Bilanz

Insgesamt entstanden von 1978 bis 1990 in Marzahn und Hellersdorf 34 Kaufhallen, 30 Clubgaststätten und 15 Dienstleistungsgebäude mit Jugendklubs. Der Gesamtaufwand dafür betrug etwas über 400 Millionen Mark der DDR. Die Gebäude stehen exemplarisch für ein Konzept von verkehrsberuhigten Versorgungs- und Freizeitzentren. Die unbeachteten, aber typischen oft auch städtebaulich-gestalterisch überzeugenden Zeugnisse der DDR-Architektur und des DDR-Alltags hätten eine Aufarbeitung und historische Wertschätzung verdient.


Architekt Wolf R. Eisentraut
Architekt Wolf R. Eisentraut

Er prägte zehn Jahre lang das Aussehen des einstigen DDR-Vorzeige-Stadtbezirks Marzahn. Aus seiner Feder stammen zahlreiche Entwürfe öffentlicher Gebäude wie u.a. Kaufhäuser, Bibliotheken, Kino, Galerie, Rathaus oder Freizeitforum Marzahn – von vielen existieren heute nur noch Fotos. Gleiches trifft auch auf alle von ihm entworfenen Wohngebietsgaststätten wie Eulenspiegel, Brunnenschänke, Marzahner Promenade, Zu den Eichen, Uckermärker und Ahrensfelder Krug zu. 

Damals bestand für den heute 78 Jahre alten Architekten die Herausforderung darin, Wohngebietsgaststätten oder Warenhäuser zu konzipieren, die vom baulichen Standard ähnlicher Gebäude in der DDR abwichen und Entwürfe für ganz individuelle Bauten zu liefern. Ihm und den damals politischen Verantwortlichen ging es darum, den Menschen auch vor der Haustür etwas zu bieten. „Unsere Wohngebietsgaststätten bewiesen, dass man nicht erst in die Innenstadt fahren musste, um abends mal gut essen zu gehen.“ Eisentrauts damals ausgeklügelter und mit hohem Tempo umgesetzter Plan von kleinen Kiezzentren, in denen das gesellschaftliche Leben außerhalb der Plattenbauwohnungen stattfinden sollte, ist Architekturgeschichte.



Der Bauhistoriker Dr. Oleg Peters schaut in den „Rückspiegel“ und gibt in dieser neuen Serie der „Hellersdorfer“ Einblicke in wenig Bekanntes aus den Anfangsjahren des Bezirks. Er stellt damalige Akteure im Porträt vor und die historischen Hintergründe dar.