„Ich war keine Musterschülerin“

Berlins neue Senatorin für Bildung, Jugend und Familie: Katharina Günther-Wünsch

"Ich war keine Musterschülerin"

Auf die Mahlsdorferin Katharina Günther-Wünsch hatte sich Kai Wegner schon ganz früh festgelegt. Jetzt ist es amtlich: Die 40-jährige Bildungspolitikerin der CDU steht nach fast drei Jahrzehnten SPD-geführter Senatsbildungsverwaltung an der Spitze dieses Ressorts. Am Donnerstagabend wurde sie vom frisch gewählten Regierenden Bürgermeister zur Senatorin ernannt.

In dem Amt kommt allerhand auf sie zu: Es gilt, den Kitaplatz- und Pädagogenmangel zu bekämpfen, die Schulbauoffensive voranzutreiben, flächendeckend Voraussetzungen für digitales Lernen und Lehren zu schaffen und den Anteil der Jugendlichen ohne Schulabschluss zu reduzieren – um nur ein paar Baustellen zu nennen. Sie freue sich riesig auf diese Aufgabe, habe aber auch „einen Heidenrespekt,“ verrät Katharina Günther-Wünsch, die viele Jahre lang als Lehrerin und Schulleiterin tätig war, im Interview mit uns. Wir haben sie auch gefragt, welche Themen ihr besonders wichtig sind und was Marzahn-Hellersdorf von ihr als Berlins Senatorin für Bildung, Jugend und Familie erwarten kann.

 

■ Sie sollen ein Einser-Abi abgelegt haben. Sind Sie früher gern zur Schule gegangen?

Schule hat mich nicht gestört, war mir aber auch nie sonderlich wichtig. Ich bin Leistungssportlerin gewesen. Das hieß, fünfmal pro Woche Taekwondo-Training und am Wochenende Wettkämpfe. Alles andere lief nebenbei. Wenn meine damaligen Lehrer von meinem beruflichen Werdegang wüssten, könnten die sich ein Schmunzeln bestimmt nicht verkneifen. Ich war keine Musterschülerin, wurde regelmäßig zum Direktor zitiert und musste mir häufig Sprüche wie „Kathi, dir stehen alle Türen offen, aber du stehst dir oft selbst im Weg“ anhören.

 

■ Und so jemand wird dann Lehrerin?

Ursprünglich wollte ich Bäuerin oder Geheimagentin werden. Ich habe dann aber Medizin studiert und hätte am liebsten als Kinderkardiologin gearbeitet. Als mir klar wurde, dass ich nur zwei Optionen habe, entweder in der Klinik arbeiten oder mich mit Millionen verschulden, um eine eigene Praxis zu eröffnen, habe ich nach fünf Jahren alles hingeschmissen und mit 23 noch mal neu angefangen. Lehramt lag irgendwie nahe, weil ich bis dahin mein Studium mit Nachhilfeunterricht finanziert hatte.

 

■ Als Lehrerin und Schulleiterin kennen Sie das Berliner Bildungssystem aus der Praxis. Schulpolitik war in der Hauptstadt häufig Versuchsfeld. Welches Vorhaben ist Ihrer Meinung nach völlig danebengegangen?

Die obligatorische Einschulung von Kindern mit fünf Jahren war keine gute Idee ebenso wenig das Schreiben nach Hören. Es hat vielen Kindern nicht dabei geholfen, die deutsche Sprache in Schrift und Wort gut zu lernen. Auch das verpflichtende Jahrgangsübergreifende Lernen (JüL) hat sich nicht bewährt. Was auffällt: Viele dieser missglückten Experimente wurden im Grundschulbereich getätigt.

 

■ Wo Kinder ja eigentlich die Basics für ihren späteren Bildungsweg lernen sollten.

Das ist die Erwachsenensicht und nur ein Teil des Dilemmas. Aus Kinderperspektive kommt hinzu, dass schon den Kleinsten das Interesse an Schule, die Lust aufs Lernen genommen wurde, was mindestens genauso schwer wiegt.

 

■ Was war Ihnen besonders wichtig, als Sie die Koalitionsverhandlungen mit der SPD aufgenommen haben?

Ich habe deutlich gemacht, was mit mir nicht zu machen ist: Es wird keine Schulstrukturreform geben. Wir treiben keine neue Sau durchs Dorf und ich will die Rahmenlehrpläne nicht anfassen. Allein Corona hat in den vergangenen Jahren so viel durcheinandergewirbelt. Die Schulen hatten nach der letzten Rahmenlehrplanänderung überhaupt nicht die Gelegenheit, im Normalbetrieb zu arbeiten. Die Schulen brauchen jetzt Stabilität. 

 

■ Ihnen bleibt nicht viel Zeit, Dinge zu verändern. Die Legislaturperiode läuft weiter. In dreieinhalb Jahren wird schon wieder gewählt. Worauf wollen Sie einen Fokus legen?

Die fehlenden Schulplätze und der akute Lehrkräftemangel werden Kernaufgaben sein. Außerdem müssen wir dringend über Bildungsqualität sprechen. Es kann nicht angehen, dass Berliner Schülerinnen und Schüler in nationalen wie internationalen Vergleichen seit Jahren schon einen Platz auf den hinteren Rängen abonniert haben. 

 

■ Lassen Sie uns über ein paar konkrete Punkte aus dem Koalitionsvertrag reden. Wie soll denn das sogenannte Kita-Chancenjahr Kinder mit Sprachdefiziten besser auf die Schule vorbereiten als das bisherige 18-monatige Sprachförderprogramm?

Frühkindliche Bildung liegt mir besonders am Herzen. Die Grundschulen klagen darüber, dass Kinder, die keine Kita besucht haben, häufig große Probleme haben. Bei 91 Prozent wird ein Förderbedarf festgestellt. Die sind zum Teil noch nicht trocken, können weder Stift noch Schere halten, das Lineal begrifflich vom Radiergummi unterscheiden oder auf einem Bein hüpfen. Manchen fällt es schwer, einen Tag im Klassenverband mit 25 anderen Kindern durchzustehen. 

Bislang sollen Mädchen und Jungen mit festgestellten Sprachdefiziten drei- bis fünfmal pro Woche für drei, vier Stunden zur vorschulischen Sprachförderung gehen. Das kann in einer Kita sein, im Duden-Institut, beim Logopäden oder bei anderen Anbietern. Obwohl es verpflichtend ist, haben viele Familien dieses Angebot aus den unterschiedlichen Gründen nicht wahrgenommen. Das soll sich mit dem Kita-Chancenjahr ändern. Das Verfahren wird klarer und es ist kein Stückwerk mehr. Alle Kinder, die bei der Sprachstandserhebung durchgefallen sind oder nicht daran teilgenommen haben, bekommen einen Kita-Gutschein über mindestens acht Stunden. Die müssen also ein Jahr verpflichtend ganz regulär jeden Tag in den Kindergarten gehen. Für diese zusätzliche Leistung wollen wir die Kitas natürlich vorbereiten und entlasten.

 

■ Inwieweit?

Wir stellen mehr Geld für Kita-Sozialarbeit und -Verwaltung zur Verfügung und legen einen „Digitalpakt Kita“ auf. Der soll die Verwaltungsaufgaben erleichtern, kann aber auch in Modellprojekten zum Beispiel für die digitalgestützte Sprachstandserhebung verwendet werden.

 

■ Und wie bekommt man das Personal in den Schulen entlastet?

Es soll künftig schneller und unbürokratischer möglich werden, Vertretungslehrer einzustellen. Wir bauen das Landesprogramm Schulsozialarbeit aus und würden den Lichtenberger Modellversuch der Schulkrankenschwestern gern auf einige prädestinierte Schulen in ganz Berlin ausweiten. Im IT-Bereich erhalten die Regionalbetreuer mehr Einsatzzeit an den Schulen und darüber hinaus sollen unbesetzte Lehrerstellen künftig reversibel umgewandelt werden können. Aktuell ist es so: Entscheidet sich eine Schule dafür, eine freie Stelle zum Beispiel mit einer Ergotherapeutin oder einem Sozialarbeiter zu besetzen, gibt es kein Zurück mehr. Das schreckt viele Schulleitungen ab, sich anderweitig Unterstützung für den Schulalltag zu holen, weil sie insgeheim hoffen, die Stellen früher oder später doch noch mit Lehrkräften besetzt zu bekommen. 

Auch habe ich mich dafür starkgemacht, dass die neu eingeführte Schultypisierung nicht zu Einschnitten beim Lehrpersonal führt.

 

■ Um wie viele Stellen geht es denn da?

Laut Senatsbildungsverwaltung wären 190 Lehrkräfte von Schulen mit niedriger struktureller Belastung abgezogen und an Schulen mit besonders herausfordernden Rahmenbedingungen umgesetzt worden. In den Koalitionsverhandlungen habe ich meinen Unmut darüber zum Ausdruck gebracht. Wenn Schulen mit einem höheren Index mehr Personal benötigen, darf das doch nicht den anderen Schulen weggenommen werden. Die brauchen ihre Leute schließlich auch. Also müssen mehr Stellen ins System. Das ist eine finanzielle Frage. Wir werden 20 Millionen Euro in die Hand nehmen, um 160 zusätzliche Stellen für Schulen mit großem Hilfebedarf zu schaffen. Dieses Vorhaben müssen wir relativ schnell umsetzen. Denn die Einstellungen gehen jetzt im Mai und Juni los. Viele Schulen sind sicher erleichtert, dass sie den einen oder anderen selbst ausgebildeten Referendar jetzt doch behalten dürfen.

 

■ Jede Menge Kohle verschlingt angesichts von Inflation und extremen Baupreissteigerungen auch die Schulbauoffensive. 

Das stimmt. Wir wollen fast noch eine Milliarde im nächsten Doppelhaushalt drauflegen. Uns kommt es aber darauf an, nicht maßlos Geld zu verpulvern. Es muss aber so viel da sein, dass bauplanungsreife Projekte auch umgesetzt werden können. Als im letzten Jahr über 100 Sanierungs- und Erweiterungsmaßnahmen der zwölf Bezirke auf einmal von der Dringlichkeitsliste gestrichen wurden, lagen schon für wahnsinnig viele dieser Vorhaben alle Gutachten und Unterlagen vor, sodass theoretisch übermorgen die Bagger hätten losrollen können. So etwas darf nicht passieren. Die Zeit haben wir nicht bei 20.000 fehlenden Schulplätzen.

 

■ Neben vereinfachten Verwaltungsvorschriften, dem Verzicht auf Architekturwettbewerbe, mehr Typenbauten und der finanziellen Unterstützung der landeseigenen Howoge beim Schulneubau zieht Schwarz-Rot auch Public-Private-Partnerships (PPP) in Erwägung. Denken Sie, dass sich das rechnet?

Wir wollen das auf jeden Fall prüfen. Einige Bundesländer haben sich für den Schulbau schon private Unternehmen mit ins Boot geholt. In Berlin gibt es da aktuell noch rechtliche Hürden. In der Regel sind private Bauträger aber wesentlich schneller als öffentliche. Eine von vielen zu klärenden Fragen wäre, ob die Gebäude dann angemietet, gepachtet oder angekauft würden. Die Howoge etwa vermietet die Schulgebäude nach der Fertigstellung an die Bezirke. Auch das sind keine kleinen Summen.

 

■ Am Otto-Rosenberg-Platz in Marzahn sollte eigentlich eine neue Grundschule oder Gemeinschaftsschule gebaut werden. Spätestens wenn auf dem Knorr-Bremse-Areal 1.000 neue Wohnungen entstehen, werde die auch dringend benötigt, sagt der Bezirk. Der Senat soll den Bedarf und die Schule angeblich wieder zur Disposition gestellt haben. Wird Marzahn-Hellersdorf mit der Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch um die Anerkennung von Schulplatzbedarfen ringen müssen?

Nein, ich werde Bedarfe nicht infrage stellen. Gerade dort, wo neue Quartiere entstehen, soll künftig noch dezidierter auf soziale und Verkehrsinfrastruktur geachtet werden. Ich habe das ja nie verstanden und schon jahrelang kritisiert. Die Bezirke legen ihre Zahlen vor, machen somit den Bedarf neuer Schulen deutlich und dringen damit aber nicht zum Senat durch. Daran muss sich etwas ändern. Es steht zwar nicht im Koalitionsvertrag, aber ich möchte mir zeigen lassen, wie in der Senatsverwaltung die Bedarfsermittlung für das Monitoring zustande kommt. Der Prozess muss schneller und die Prognosen müssen zuverlässiger werden.

 

■ Dagegen ist im Koalitionsvertrag die Einführung des Religionsunterrichts festgehalten. Welchen Mehrwert sehen Sie darin und was ist Ihre Vorstellung von modernem Religionsunterricht?

Mir ist dabei wichtig, zu betonen, dass es sich um ein Wahlpflichtfach ab Klasse 7 handelt. Die Stundentafel wird nicht ausgeweitet und der Ethikunterricht nicht berührt. Bislang haben wir einen großen Wildwuchs, das heißt kein klares und einheitliches Vorgehen: Die religiösen Glaubensgemeinschaften sind selbst für das Personal und die Inhalte des Unterrichts verantwortlich, wenn es dieses Angebot an einer Schule gibt. Und so manche Schulleitung hatte schon ihre Bauchschmerzen mit dem, was dort vermittelt wurde. Indem wir Religion in den Fächerkanon aufnehmen, haben wir als Senatsbildungsverwaltung zu garantieren, dass eine religiös tolerante und offene Weltanschauung vermittelt wird.

 

■ Das Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf hat gerade eine Haushaltssperre verhängt. Größtes Risiko sind seit Jahren schon die Mehrausgaben für die Hilfen zur Erziehung (HzE), die der Bezirk von der Senatsfinanzverwaltung nie in voller Höhe erstattet bekommt. Wird sich daran etwas ändern?

Ich gehe davon aus, dass es in diesem Jahr eine Basiskorrektur geben wird. Grundsätzlich sollten wir uns aber doch noch mal anschauen, warum Marzahn-Hellersdorf so viel mehr Geld als andere Bezirke für die Erziehungshilfen ausgibt. Möglicherweise lassen sich im Rahmen einer Evaluation Doppelfinanzierungen ermitteln oder Maßnahmen, die nicht greifen. Vielleicht kommt man am Ende aber auch zu der Erkenntnis – und das will ich gar nicht ausschließen –, dass alle Ausgaben notwendig sind und Marzahn-Hellersdorf wegen der Sozialstrukturdaten einfach einen so hohen HzE-Bedarf hat. Dann muss der Bezirk aber von Vornherein mehr Geld zur Verfügung gestellt bekommen und nicht erst bis zur Basiskorrektur zittern müssen.

 

■ Mit Ihnen bekommt Berlin eine Bildungssenatorin, die unseren Bezirk privat, als Bezirksverordnete und als Abgeordnete bestens kennt. Ihr Staatssekretär Dr. Torsten Kühne war in den vergangenen anderthalb Jahren Bildungsstadtrat in Marzahn-Hellersdorf. Für den Bezirk kann das doch nur gut werden, oder?

Es sollte auf keinen Fall schlechter werden. Aber ich will auch keine Luftschlösser bauen. Über allen Kapiteln dieses Koalitionsvertrages schweben die großen Themen Verwaltungsreform und Digitalisierung. Davon hängt zum Beispiel auch ab, ob wir die Verfahren der Schulbauoffensive entschlackt, entbürokratisiert und idealerweise digitalisiert bekommen. Sicher wird nicht alles in dreieinhalb Jahren geheilt werden können, was 30 Jahre lang nicht funktioniert hat. Ich wünsche mir eine bessere Kommunikation und Zusammenarbeit mit den Kitas, Schulen und Trägern. Ich möchte gemeinsam Dinge auf den Weg bringen, für Stabilität sorgen und die großen Themen in den Bereichen Bildung, Jugend und Familie angehen. Darauf freue ich mich riesig, habe aber auch einen Heidenrespekt vor dem, was da auf mich zukommt.

 

■ Ich hoffe, wir hätten diese Frage auch einem Mann gestellt: Sie bekleiden künftig ein hohes politisches Amt und sind Mutter von vier Kindern. Ihr jüngster Sohn wird vier Jahre alt. Wie bekommen Sie das gemanagt?

Ich weiß, wie es sich anfühlt, permanent ein schlechtes Gewissen zu haben. Entweder du hast zu wenig Zeit zu Hause oder du hetzt auf Arbeit herum. Es ist eine Herausforderung und ein Spagat. Wir sind eine Patchwork-Familie und allen ist klar, dass es ohne die Hilfe Dritter nicht gehen wird. Wir werden das packen, aber es erfordert Disziplin und eine gute Organisation. Ich freue mich sehr, diese Chance jetzt nutzen zu können.